Drogen sind der Treibstoff der Unterhaltungsindustrie. Songs über Kokain stürmen die Charts. Serien über Drogenkriminelle feiern Erfolge. Das Elend der Süchtigen geht dabei völlig vergessen.
Die Taschen voll mit Geld wegen Kokain», singt Bonez MC im ersten Teil von «Kokain». Der Song der deutschen Dancehall-Stars Bonez MC & RAF Camora sprang vergangene Woche direkt auf Platz drei der Schweizer Charts. In Deutschland landete er gar auf der eins.
Erzählt wird aus der Dealer-Perspektive. Begleitet von La Bouches 90er-Jahre-Hit «Be My Lover» protzen Bonez und RAF gegenseitig um die Wette. «Meine ganze Stadt betäubt von dem glänzenden Zeug», singt Bonez. «Hotpants werden feucht, komm und kauf was von mir.» Die Botschaft ist klar: Der Hörer hat es mit harten Kerlen zu tun, die sich von niemandem etwas sagen lassen. Frauen, die nicht wollen, werden gefügig gemacht. Ich bin der König, alle anderen sind Opfer. «Bin ich da, fangen die Junkies an zu schwitzen», heisst es in einer anderen Zeile. «Und ist mir scheissegal, wenn sie anfang’n, sich zu spritzen.»
Überzeichnetes Gangstergehabe? Gar nicht so sicher. Bonez MC & RAF Camora bewegen sich jedenfalls in einem Milieu, in dem man mit Vorstrafen und Gefängnisaufenthalten angibt. Die Authentizität, die sie ausstrahlen, trägt massgeblich zum Erfolg der beiden bei.
In den internationalen Charts wimmelt es von dieser Art von Typen. Charismatische Machos, die aus einer Welt kommen, in der man laut sein muss, um nicht unter die Räder zu kommen. Sie heissen 21 Savage, Lil Baby oder Young Thug. Ihre Lieblingsthemen: Drogen verkaufen, Drogen nehmen. Egal, ob es ums Kiffen, Koksen oder um den Konsum von Kodein geht – Drogen-Bluffereien pumpen das Ego auf.
Deshalb passt es perfekt, dass der Song «Kokain» die Netflix-Serie «Narcos» bewirbt, die sich den egomanischen Drogenbaronen Lateinamerikas widmet. Im Video zum Song spielen die Schauspieler der neuen Staffel mit, die den Zuschauer nach Mexiko führt.
Drogendealer der Herzen und kaltblütiger Terrorist
«Narcos» ist eine der erfolgreichsten Eigenproduktionen von Netflix. Wie die Zusammenarbeit mit den Deutschen zustande kam – dazu möchte sich die Pressestelle des Streaming-Giganten nicht äussern. Sie verweist auf den Start der Staffel am 16. November.
Klar ist: Die Kontroverse um «Narcos» beschäftigt bei Netflix niemanden. Sie begann bereits mit den ersten beiden Staffeln, die den Aufstieg von Pablo Escobar in Kolumbien zeigt. Der erste weltbekannte Drogenbaron liess während seiner Schreckensherrschaft Tausende Menschen ermorden und zwang die Regierung seines Heimatlands in die Knie. Es gilt als erwiesen, dass er 1989 eine Passagiermaschine mit einer Bombe vom Himmel holte. Wahrscheinlich um ein paar Informanten zu töten. Alle 107 Insassen kamen ums Leben. Dass Netflix Escobar als mehr oder weniger charmanten Outlaw inszeniert, kommt vor allem in Kolumbien schlecht an. Selbst Escobars Sohn sagte in einem Interview, die Serie glorifiziere das Leben als Drogendealer.
Warum faszinieren uns diese Menschen trotz ihrer Schreckenstaten? Der britische Kriminologe David Wilson beantwortete die Frage in einem Interview folgendermassen: «Während Leute wie du und ich von neun bis fünf arbeiten, um für Häuser und Hochzeiten zu sparen, leben Leute wie Escobar nur fürs Heute.»
Escobar verdiente zu seinen besten Zeiten eine Million Dollar pro Tag. Auf seiner Hacienda baute er einen Zoo, für den er exotische Tiere ins Land schmuggeln liess. Das Luxusgefängnis, in das er sich für ein Jahr freiwillig begab, liess er selbst bauen. David Wilson: «Auch wenn wir niemals dieselben Dinge dafür tun würden, sind wir doch massivangezogen von seinem Lebensstil und allem, was damit einhergeht.»
Kein Wunder kommen Serien wie «Breaking Bad» oder «Ozark» gut an, in denen sich geknechtete Bünzli plötzlich nicht mehr an gesellschaftliche Regeln halten und zu respektierten Playern im Drogengeschäft aufsteigen.
Unangenehme Zeitgenossen im Scheinwerferlicht
Dank des Erfolgs von «Narcos» boomen Drogenstorys auf allen Kanälen. Anfang Jahr lief auf dem deutschen Bezahlsender Fox die synchronisierte Version der Serie «Snowfall» an, die sich um einen 19-jährigen Crackdealer im Los Angeles der 80er-Jahre dreht.
Im selben Jahrzehnt spielt der Spielfilm «White Boy Rick», der am 14. September in den USA anlief. Matthew McConaughey verkörpert Richard Wershe Jr., ehemals einer der mächtigsten Drogenbosse Amerikas, der gleichzeitig fürs FBI arbeitete.
In der Serie «Queen of the South» (läuft auf Deutsch bei Dmax) arbeitet sich eine Mexikanerin zur Chefin eines Kartells empor, um die Ermordung ihres Freundes zu rächen.
Federführend beim Inszenieren von unangenehmen Zeitgenossen bleibt Netflix. «Drug Lords», eine weitere Eigenproduktion, ist State of the Art dieser Disziplin. Die Dokuserie stellt uns Leute wie Kath Pettingill vor, Granny Evil genannt. Die «Böse Grossmutter» amtete als Matriarchin über ein kriminelles Familienunternehmen, den Pettingill Clan, der die australische Metropole Melbourne bis in die 80er-Jahre mit Heroin versorgte. Ihr Sohn Dennis, sadistisch und amphetaminsüchtig, soll 13 bestialische Morde begangen haben. Seine Mutter machte danach sauber.
Als Zuschauer sieht man mit einer Mischung aus Faszination und Entsetzen zu, wie die Frau mit dem Glasauge sich irgendwie als Opfer ihrer Kinder zu inszenieren versucht. Das wirft die Frage auf, wie sinnvoll es ist, zwielichtige Charaktere am Ende ihres Lebens auf einer öffentlichen Plattform zu Wort kommen zu lassen.
Netflix veröffentlicht keine Zahlen, hat sich «Drug Lords» aber einiges kosten lassen. Ohne Budget kommt niemand an diese Fülle von Originalmaterial und so prominente Zeitzeugen heran. Eine dramatische Männerstimme kommentiert die Geschehnisse aus dem Off, Schauspieler stellen die Geschehnisse nach. Das Ganze verschwimmt zu einem audiovisuellen Rausch aus krassen Schilderungen, grobkörnigen Strassenszenen und Zeitlupenaufnahmen von abgefeuerten Handfeuerwaffen. Aber wie war es wirklich? Schwer zu erraten.
Wie stark Realität und Fiktion bei filmische Darstellungen von Drogenmilieus auseinanderklaffen, zeigt sich am Beispiel von Frank Lucas, bekannt als «American Gangster» aus dem gleichnamigen Blockbuster von Ridley Scott aus dem Jahr 2007.
Denzel Washington verkörpert den mächtigsten Drogendealer des früheren New York als edlen Geschäftsmann mit Robin-Hood-Eigenschaften. Als Schwarzer aus Harlem sieht er in kriminellen Machenschaften die einzige Möglichkeit, am amerikanischen Traum teilzuhaben. Im Gegenzug lässt er auch mal Lebensmittel an die verarmten Bewohner seines Quartiers verteilen.
Der «American Gangster» ist in echt nur halb so nett
Auch Frank Lucas sass für «Drug Lords» vor der Kamera. Ein inzwischen 88-jähriger Mann mit einer Scharfschützen-Sonnenbrille, der noch immer von der Qualität seines auf «Blue Magic» getauften Heroins schwärmt, das bis in die 70er-Jahre Tausende Existenzen zerstörte. Dass er es in Leichen von gefallenen Vietnamsoldaten in die USA schmuggelte, streitet er noch heute ab. Der charismatische Edelmann sprüht im Dokfilm nur so vor Boshaftigkeit. Lucas verpfiff nach seiner Verhaftung so viele Leute, dass er nur fünf der 70 Jahre, zu denen er verurteilt wurde, absitzen musste.
Im Getöse des Hypes um übersteigerte Egos gehen die Schattenseiten des Drogenhandels vergessen. Dabei steckt die USA gerade in der schlimmsten Opiatkrise ihrer Geschichte. Laut Gesundheitsbehörde starben vergangenes Jahr 71 568 Menschen an einer Überdosis. Die Epidemie grassiert am stärksten in ländlichen Gebieten des Mittleren Westens, wo zum Teil ein Elend herrscht wie ehemals auf dem Zürcher Platzspitz. Heroin, Schmerzmittel, Crystal Meth – konsumiert wird alles, was günstig und leicht zu kriegen ist. Kokain gehört nicht dazu.
Vielleicht ist nun aber «Beautiful Boy» ein Zeichen dafür, dass sich das amerikanische Unterhaltungskino dem tragischen Thema doch noch annimmt.
Das Drama läuft im Programm des Zurich Film Festival und basiert auf den Memoiren eines Vaters, der sich weigert, seinen Sohn an die Drogensucht zu verlieren. Timothée Chalamet («Call Me By Your Name») spielt an der Seite von Steve Carell («Date Night»).
Der Film wird bei Kritikern bereits als Anwärter für mehrere Oscars gehandelt. Wie viele Zuschauer sich für die harte Realität interessieren, bleibt abzuwarten.
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