Journalist

«Ich habe meine eigene Zeitzone»

In «Sonntagsblick Magazin», Gesellschaft on 2. September 2018 at 13:28

Er war Kriegsreporter, machte sich als Lifestyle-Guru einen Namen und entwarf das erste Logo der Swiss. Jetzt baut Tyler Brûlé (49) die Niederlassung seines Magazins «Monocle» in Zürich aus. Bitte lassen Sie den Kanadier in Ruhe, wenn er auf der Strasse telefoniert.

Herr Brûlé, Ihre Uhr geht falsch. Aus welcher Zeitzone kommen Sie gerade?
Tyler Brûlé: Oh, die Uhr geht nicht falsch. Ich habe meine eigene Zeitzone: 30 Minuten nach britischer, 30 Minuten vor Schweizer Zeit.

Warum das?
Ich pendle oft zwischen London und Zürich, also mit einer Stunde Zeitverschiebung. Meine Zeitzone liegt genau dazwischen.

Als Sohn einer Künstlerin und eines Footballprofis sind Sie in Kanada aufgewachsen. Wie würden Sie das Umfeld beschreiben, aus dem Sie stammen?
Vielleicht als dynamisch? Wir zogen oft um, weil mein Vater immer wieder transferiert wurde. Ich lebte in Montreal, Toronto und Winnipeg und besuchte zehn Schulen. Es ist kein Zufall, dass mein Leben immer in Bewegung ist.

Sie sind Journalist, Verleger und Markenspezialist. Auch als Kriegsberichterstatter haben Sie sich versucht. Mit 25 wurden Sie in Afghanistan von einem Scharfschützen angeschossen.
Das war ein einschneidendes Erlebnis. Ich wäre fast gestorben und kann meine linke Hand bis heute nicht mehr so gut bewegen. Ich glaube rückblickend, dass ich nicht den Mut gehabt hätte, selbst ein Unternehmen auf die Beine zu stellen, wenn mir das nicht passiert wäre. Der Vorfall hat mich abgehärtet. Mein neuer Job ist aber auch nicht mehr lebensbedrohend. Höchstens lebensstilbedrohend.

Sie sind seit 15 Jahren mit der Schweiz verbandelt. Gibt es irgendetwas, das Sie an diesem Land noch immer erstaunt?
Es ist wohl das einzige Land, das stolz darauf ist, Letzter zu sein.

Stolz, dass zum Beispiel das Frauenstimmrecht erst so spät eingeführt wurde?
Nein. Ich spreche von Dingen, die es hier noch gibt, während sie in anderen Ländern längst von der Bildfläche verschwunden sind. Die Schweiz ist stolz darauf, als letztes Land eine Street Parade zu haben, Zahnradbahnen in den Bergen, Dampfschiffe auf den Seen. Oder eine Airline, die noch etwas formeller daherkommt als die anderer Nationen. Mir gefällt das.

Sie haben diese Airline, ehemals Swissair, 2002 in Swiss umgetauft und mit Ihrer Branding-Agentur den ganzen Markenauftritt neu gestaltet. Das von Ihnen entworfene Logo mit den zwei Würfeln wurde 2011 ersetzt. Wie viel ist übrig geblieben von Ihren Ideen?
Unsere Kernidee ist immer noch spürbar: die Swissness, die wir zurückbringen wollten, die optische Klarheit und Disziplin. Swissair hatte nach dem Grounding einiges an Nachholbedarf, was den optischen Auftritt betraf. Die Sicherheitsgurte waren mal blau, mal grau, das Qualiflyer-Logo passte nicht zum Rest. Es war ein ziemliches Durcheinander.

Sie wurden als Swissness-Papst gepriesen. Ein Übername, den Sie heute nicht mehr mögen.
Das hat aber mehr mit der Bezeichnung Papst zu tun.

Nicht alle fanden Sie toll. Kritiker bezeichneten Ihre Ideen als weltfremd, den Swiss-Slogan «Welcome to civilised aviation» als arrogant. Hat Sie das verletzt?
Eher überrascht. Welch emotionale Beziehung die Menschen zur Swissair hatten, zeigt allein der Umstand, dass wir hier über sie sprechen. 15 Jahre später.

Sprechen wir über Ihre Rolle als Verleger des Nachrichten- und Lifestyle-Magazins «Monocle». Sie sind gerade dabei, Teile des Unternehmens von London nach Zürich zu verlegen. Am neuen Standpunkt im Quartier Seefeld haben Sie auch ein Café und einen Kleiderladen eröffnet. Warum der Umzug?

Einer der Gründe, warum wir unser Standbein in der Schweiz vergrössern, ist die Ungewissheit darüber, was in England passieren wird im Zusammenhang mit dem Ausstieg aus der EU. Laut der Bank of England ist die wirtschaftliche Lage Grossbritanniens seit dem Brexit-Beschluss so unsicher geworden, dass sich das beim Einkommen von Privathaushalten bereits jetzt in ein jährliches Minus von 900 Pfund niederschlägt. Die Kaufkraft wird demnächst garantiert nicht steigen. Im Gegenteil.

Es ist ironisch, dass Sie aus einem Land, das seit 1973 in der EU ist, in eines flüchten, das nicht einmal dem EWR angehört.
Die Schweiz liegt aber im Vergleich zu England mitten in Europa, ihre Bewohner sind mehrsprachig und kosmopolitisch. Nirgendwo sonst hat man ein so gutes Gespür dafür, was jenseits der Grenze vor sich geht, in Deutschland, Frankreich, Italien. Ausserdem liegt hier unser wichtigster Werbemarkt.

Das heisst?
Dass Schweizer Firmen die sind, die am meisten bei uns inserieren. Dank der Luxusindustrie, muss man sagen, den Uhrenfirmen, den Banken, den Hotels.

«Monocle» publiziert ein Mal jährlich eine Liste mit den lebenswertesten Städten der Welt. Zürich steht seit diesem Sommer auf Platz 4 hinter Wien (3), Tokio (2) und München (1).
Was Lebensqualität betrifft, ist Zürich top. London schafft es nicht mal unter die ersten 25.

Neben dem öffentlichen Verkehr und dem Flughafen loben Sie die Sicherheit. Die Polizei sei überall, steht im Text.
Ich fühle mich ein bisschen «overpoliced» in Zürich. Mir ist das aber lieber als in London, wo ich auf Schritt und Tritt von Kameras überwacht werde.

In der Nähe Ihres Büros kam es vor zwei Wochen zu Krawallen zwischen Jugendlichen und der Polizei. Die Gewalt gegen Beamte nimmt in der Schweiz angeblich zu. Was sagen Sie dazu?
Ich bin zu wenig gut informiert, um das zu beurteilen. Das Einzige, was mir auffällt: In der Schweiz werden viel schneller Wasserwerfer aufgefahren als in England. Als es in London vor ein paar Jahren zu schweren Ausschreitungen kam, gab es eine massive Debatte darüber, ob man sie einsetzen soll oder nicht. Die Briten sehen diese Fahrzeuge als Instrument des Faschismus.

Was missfällt Ihnen an Zürich?
Der Umgang mit dem Thema Lärm. Kürzlich telefonierte ich vor dem Büro, als mich eine Frau von nebenan bat, das doch bitte drinnen zu tun. Es war 13 Uhr. Ich dachte: Wie bitte? Man muss in einer Stadt doch einigermassen funktionieren können. Es bringt auch nichts, Lärmghettos zu kreieren, indem man das Nachtleben an die Langstrasse verbannt. Der Lärm muss verteilt werden. Ich fänds traurig, wenn sich die Schweiz zurückentwickelt und plötzlich wieder dem biederen Image entspricht, das sie sowieso noch nicht ganz los ist.

Der Sonntagsverkauf ist hier auch sehr umstritten.
Ich habe als selbständiger Unternehmer ganz andere Argumente als Kirche und Gewerkschaft. Mich stört, dass ein Konsument an Feiertagen auf den Webseiten von Migros und Coop einkaufen kann, so viel er will, während kleine, unabhängige Läden kein Geschäft machen dürfen. Konsequenterweise müsste man auch die Online-Shops am Sonntag schliessen.

Sie sind aber auch recht traditionell. In Zeiten, wo alle nach Online schreien, bringen Sie Ihr Magazin monatlich nur auf Papier heraus.
Man sollte unser Medienunternehmen deshalb nicht als altmodisch betrachten, sondern als kompetitiv und modern. Wenn wir ein Online-Medium wären, müssten wir gegen Milliardenunternehmen wie Google und Facebook und alle ihre Tochterfirmen antreten. Da haben wir keine Chance.

Sie sind praktisch jeden Tag in einer anderen Stadt, an den schönsten Orten und in den hipsten Hotels. Das schreit doch förmlich danach, in den sozialen Medien gezeigt zu werden. Sie haben aber nicht einmal ein Instagram-Profil.
Für einen Floristen aus Pfäffikon ist Instagram eine super Sache. Dort kann er Blumengestecke für Hochzeiten einem breiten Publikum zeigen und damit Kundschaft anziehen. Wenn ich als Zeitschrift einen Instagram-Account führe, füttere ich einen Medienkanal, der nicht mir gehört. Die Einnahmen durch Werbung, die dort gezeigt wird, gehen an Instagram. Alles, was ich mache, ist, meine Leserschaft an eine Marke heranführen, die auch wieder zu Facebook gehört.

In den Schweizer Seebädern lesen viele Leute Zeitungen auf Papier. Schwärmen Sie deshalb so von den Badis?
Ich habe gelesen, dass die Zürcher Badis diesen Sommer zwei Millionen Eintritte verkauften. Ich glaube, dass es nicht nur am Wetter liegt, sondern weil dort etwas passiert mit den Menschen inklusive mir.

Was denn?
Man lässt sein iPhone für eine Stunde über Mittag im Schliessfach, liegt einfach nur an der Sonne oder unterhält sich «face to face». Alles ist unverfälscht, es gibt keinen Instagram-Filter und keine Kameraposen. Das Einzige, was in diesem Moment etwas über mich als Person verrät, sind meine Badeshorts, meine Sonnenbrille und meine Uhr. Und die Zeitung, die ich in den Händen halte.

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