Der Sommerhit dieses Jahres löst mit Reggaeton-Beats Glücksgefühle aus. Dass Songs wie «Despacito» gerade dermassen abräumen, ist kein Zufall.
Es ist der Aufruf zur Langsamkeit, der «Despacito» so charmant macht, dieses lang gezogene «Deeespaaa» im Refrain, gefolgt von einem pointierten «cito». Dazu die typischen Karibik-Beats des Reggaeton, wie dieser Musikstil heisst, mit seinem beschleunigenden Buuum-tscha, bum-tschak, das dem menschlichen Gehirn eine klare Botschaft sendet: Tanzen! Jetzt!
Mit «mal ganz langsam» könnte man «despacito» übersetzen. Es ist der Diminutiv von «despacio», dem spanischen Wort für «langsam» oder «gemächlich». Im deutschsprachigen Raum sind wir zu zackig, als dass wir Adjektive noch verniedlichen würden. Nur die Berner kennen einen Ausdruck, der in eine ähnliche Richtung geht: «Süferli, süferli!»
Seit einem halben Jahr dominiert der Song von Luis Fonsi feat. Daddy Yankee, beide aus dem amerikanischen Aussengebiet Puerto Rico, die Schweizer Hitparade, seit dreieinhalb Monaten steht er auf Platz eins.
Genauso erfolgreich ist «Despacito» in allen anderen Ländern Europas und auf dem amerikanischen Festland. In den USA vergingen seit «Macarena» von Los del Río zwanzig Jahre, bis es wieder einmal ein auf Spanisch gesungener Song an die Spitze der Charts schaffte. Rund fünf Milliarden Mal wurde das Lied weltweit bereits gestreamt. Es nur als Sommerhit zu bezeichnen, ist eine Beleidigung.
Genauso wie die Annahme, es handle sich um eine musikalische Ausnahme, die sich in die angelsächsische Unterhaltungsmusik verirrt habe. Denn selbst wenn Sie den Musikbegriff dafür nicht kennen, haben Sie Reggaeton wahrscheinlich schon mehr als einmal am Radio oder auf öffentlichen Plätzen gehört. Vor allem jetzt, im Sommer, wo er von überallher aus den portablen Boxen von Jugendlichen und Junggebliebenen scheppert. Bei Sonnenuntergang klingt es an der Zürcher Seepromenade wie an einer karibischen Strandparty.
Vielleicht haben Sie auch schon in einer Zumba-Lektion zu Hits des Genres den Hintern geschwungen, ohne es zu wissen.
Nun entdecken weisse Popstars den Reggaeton
Der Erfolg des Reggaeton ist ein Lehrstück für die Globalisierung des Musikgeschäfts. Der Haupttreiber für diese Entwicklung ist das Internet. Heute sind Künstler nicht mehr davon abhängig, in welchen Ländern die grossen Plattenfirmen ihre Alben veröffentlichen. Ein Song schafft es via Youtube in sekundenschnelle von Mexiko nach Manchester oder von San Juan nach St. Gallen. Das Netz ist durchlässig, daran wird auch Trumps Mauer nichts ändern. Vor allem junge Musikkonsumenten haben deshalb wenig Berührungsängste mit Sprachen, die sie nicht oder noch nicht verstehen.
Auch «weisse» Stars wollen jetzt mit Reggaeton Geld verdienen. Ed Sheeran aus England hat sich für seinen Hit «Shape of You» an der Mischung aus Reggae, Salsa und Hip-Hop bedient, genauso wie die Australierin Sia für ihr «Cheap Thrills». Justin Bieber ist mit «Sorry» auf den Zug aufgesprungen und hat mit Luis Fonsi auf Spanisch eine gemeinsame Duett-Version von «Despacito» eingespielt, die genauso erfolgreich zu werden droht wie das Original.
Tausende Schweizer feierten zu Reggaeton
Warum sind Bewohner der nördlichen Hemisphäre plötzlich so angetan von Buuum-tscha, bum-tschak aus dem Süden? Der Hauptgrund dürfte sein, dass sich Reggaeton von der romantischen Seite zeigt.
Das war nicht immer so: Als Daddy Yankee 2004 mit «Gasolina» eine erste Reggaeton-Welle lostrat, bestanden die Songs noch aus giftig klingenden Techno-Rhythmen, zu denen Rapper aggressive Wortsalven abfeuerten.
Heute triefen sie oft vor süssen Melodien, das Dauerbrenner-Thema Sex wird (wie auch bei «Despacito») für karibische Verhältnisse fast schon zärtlich angegangen, viele Rapper haben sich das Singen beigebracht und inszenieren sich nun mehr als Lover- denn als Badboys.
«Das gefällt einer breiteren Zuhörerschaft inklusive Frauen», sagt Beat Schaub (58) alias DJ Papi Electric am Telefon. Er ist gerade auf dem Weg ins Tessin, wo er für eine Hochzeitsgesellschaft Musik auflegen soll. «Reggaeton, was sonst.»
Auch wenn man es ihm äusserlich nicht unbedingt ansieht: Der Zürcher, auch bekannt als Disco-DJ Vitamin S, ist seit bald zwanzig Jahren eine international vernetzte Instanz für tanzbare Latin-Music mit einer eigenen Partyreihe und einer Mix-Show auf Radio Planet 105.
Am Caliente-Festival, dem grössten Festival dieser Musiksparte in Europa, feierten Anfang Juli schätzungsweise 40000 Menschen aus der ganzen Schweiz an drei Tagen auf der Zürcher Kasernenwiese zu seinen Reggaeton-Beats. «Ich bin mir zum ersten Mal vorgekommen wie ein Pop-Star.»
Wer den Perreo tanzt, landet auch mal im Gefängnis
Der moderne Reggaeton, sagt Schaub, sei der Rock ’n’ Roll Lateinamerikas. Entstanden in den Armenvierteln von Städten in Panama, Puerto Rico, Kolumbien und Kuba, bot er Jugendlichen die Möglichkeit, sich sozialkritisch gegen politische Missstände in ihrem Land zu äussern und sich gegen die Musik ihrer Eltern aufzulehnen. In ihrem Fall gegen den traditionellen Salsa oder Merengue.
Beim Reggaeton werden Instrumente durch Beats aus dem Computer ersetzt, man tanzt keinen streng geregelten Paartanz dazu, sondern eine Bewegungsform, benannt nach dem puertoricanischen Slang-Wort für Hund: Perreo.
Dieses «Vögeln in Kleidern», um gleich in der Terminologie der Tierwelt zu bleiben, sorgt nicht nur in der katholischen Kirche Lateinamerikas für Empörung. In Atlanta, USA, kassierten zwei Club-Betreiber Haftstrafen, weil sich Jugendliche auf der Tanzfläche ihres Etablissements anrüchig aneinander gerieben hatten. Das erinnert an den Aufruhr, den Rock ’n’ Roll in den Fifties auslöste, als sich beim Tanzen die Röcke hoben.
In der Schweiz verstehen die wenigsten Zuhörer, wovon die Reggaeton-Songs mit all ihren Anspielungen und Insiderbegriffen handeln, und ein paar sexy Tanzbewegungen bringen hoffentlich so schnell niemanden aus der Fassung.
Was uns lockt, ist die Exotik dieses Genres inklusive der schönen Menschen, die mit ihm einhergehen. «Bei uns muss man immer unglaublich cool sein», sagt Beat Schaub, der mit einer Kubanerin verheiratet ist. «Reggaeton funktioniert da wie ein Ventil, durch das wir endlich einmal unsere Emotionen rauslassen können.»
Du muss angemeldet sein, um einen Kommentar zu veröffentlichen.