Herr Burkhardt, Sie sprechen erstaunlich offen über Ihre psychische Krankheit. Deshalb gleich als Erstes: Wie geht es Ihnen heute?
Florian Burkhardt: Ich nehme nach wie vor Medikamente gegen meine Angststörung. Meine soziale Phobie aber habe ich im Griff, ich zwinge mich täglich dazu, unter die Menschen zu gehen. Ich bin mittlerweile eine richtige Kaffeetante geworden.
Vor drei Jahren sorgte ein Dokumentarfilm über Ihr Leben als erfolgreiches Männer model, Partyorganisator und Psychiatrie patient für Furore: «Electroboy». Nun schreiben Sie in Ihrem autobiografischen Roman ausschliesslich über Ihre Kindheit und Jugend. Warum sollen wir uns dafür interessieren?
Weil der Roman nicht nur meine Entwicklung aufzeigt, sondern auch die Welt um mich herum. Er ist ein Zeitdokument über das Aufwachsen in der Schweiz in den 1980er-Jahren. Er ist ein Beispiel, wie es her- auskommen kann, wenn Eltern ihre Kinder zu ihrem einzigen Lebenssinn machen.
Sie überlegten sich als Jugendlicher, wie Sie Ihre Mutter umbringen könnten. Wie gross ist der Hass heute?
Ich stand 21 Jahre unter ihrer Terrorherrschaft, negative Gefühle sind noch immer da. Aber ich liebe meine Eltern auch, mein Verständnis für sie ist gewachsen. Meine Mutter tut mir oft leid. Vor allem jetzt, wo sie so gebrechlich ist. Meine Eltern sind 83.
Noch vor Ihrer Geburt baute Ihr Vater einen Unfall. Nach einem Überholmanöver riss das Auto entzwei, Ihr sechsjähriger Bruder Andreas starb – die Eltern und Ihr älterer Bruder überlebten ohne einen Kratzer.
Meine Eltern haben nie miteinander über den Unfall gesprochen, psychologische Unterstützung gab es anno dazumal erst recht nicht. Meine Mutter fuhr im Krankenwagen mit ihrem toten Kind ins Spital und danach direkt nach Hause. Mein Vater musste auf den Polizeiposten und wurde später wegen fahrlässiger Tötung verurteilt. Das wars.
Dann kamen Sie auf die Welt. Als Lückenfüller.
Klingt hart, aber ist so. Was ich erst als Erwachsener erfahren habe: Meine Eltern hatten zuvor ein Mädchen adoptiert, es dann aber wieder zurückgegeben – weil es nicht wunschgemäss war. Als ich geboren wurde, feierte mich meine Mutter wie einen Heiland. Sie erzählte mir damals als kleinem Jungen, dass ich Gott gebeten hätte, zu ihr auf die Erde zu kommen. Und dass mein verstorbener Bruder deshalb für mich hätte Platz machen müssen. Absurder gehts nicht.
Aus lauter Angst, dass auch Ihnen etwas Schlimmes passiert, kontrollierte Ihre Mutter jeden Ihrer Schritte. Bis Sie zwanzig waren, durften Sie nur in ihrer Sicht weite und nur mit kleinen Kindern spielen. Ältere hätten Ihnen Drogen geben können.
Das ging so weit, dass sie meine Freundschaft zu einem gleichaltrigen Jungen zerstörte – indem sie seine Eltern davor warnte, dass ich schwul sein könnte, was ich im Geheimen ja auch war. Ich wurde mein halbes Leben darauf programmiert, dass alles und alle gefährlich sind. Kein Wunder habe ich Angststörungen.
Es hätte auch anders kommen können.
Die Wahrscheinlichkeit ist klein. Heute rät man Frauen, die ähnliche Tragödien durchmachen, wie sie meine Mutter erlebt hat, davon ab, gleich wieder schwanger zu werden. Die Gefahr ist einfach zu gross, dass ein Nachzügler in einer komischen Familienkonstellation landet. Vielen Traumatisierten fällt es so schon schwer, sich auf diejenigen zu konzentrieren, die ihnen geblieben sind. Meinen älteren Bruder beachtete meine Mutter nach dem Unfall kaum noch.
Ihre Eltern waren für die 1980er-Jahre sehr streng.
Absolut, denn für meine Mutter war ich eine Art Religion. Auch wenn mein Fall vielleicht nicht das beste Beispiel ist: Ich habe das Gefühl, dass es heute wieder in eine ähnliche Richtung geht.
Wie meinen Sie das?
Im Berliner Familienquartier Prenzlauer Berg zum Beispiel, wo ich gerade drei Jahre gewohnt habe, sind Kinder Projekte. Die jungen Eltern dort haben alle studiert, ihre Partyzeit hinter sich gelassen und produzieren gelang- weilt Nachwuchs. Der darf dann nur mit Helm herumlaufen und muss ins Kinderyoga. Man kann sich gar nicht vorstellen, wie um- klammernd diese Mütter sind. Sie erinnern mich an meine Geschichte.
Seit kurzem wohnen Sie wieder in der Schweiz, in Bern. Weshalb die Rückkehr?
Weil ich auf gutem Weg bin, mit meiner Vergangenheit abzuschliessen. Es hat fast zwanzig Jahre gedauert, bis ich wusste, wo ich hingehöre. Im Moment fühlt sich die Schweiz wieder als Heimat an. Ich bin sehr gerne hier.
Anfang der 2000er-Jahre organisierten Sie in Zürich unter dem Namen Electroboy erfolgreich Technopartys. Sie litten schon damals unter Angstpsychosen und waren länger in einer psychiatrischen Klinik gewesen. Wie geht das zusammen?
Ich konzipierte damals die Partys von zu Hause aus. Visuelles war sehr wichtig, Projektionen, die Grafik der Flyers – alles war durchdacht. An den Anlässen selbst war ich nur ganz kurz zu sehen. Wenn überhaupt.
Sie behaupten, niemals Drogen genommen zu haben. Dabei würde das gut ins Bild passen.
Ich bin starker Raucher und habe zwei, drei Mal gekifft. Vor allen anderen Substanzen habe ich aber Panik.
Trotzdem zählt man Sie zur Generation X, die Selbstverwirklichung an erster Stelle setze, sich im Hype des Internetbooms und der Technopartys austobte.
Das trifft zu. Ich bin mit der Vorstellung aufgewachsen, die Arbeitswelt sei easy-peasy. Ich komme aus einer Zeit, als nur die Streber ins Gymi gingen und danach dafür alles studieren konnten, was sie wollten. Der Rest machte die Sek und konnte jede Lehrstelle haben. Die Eltern hatten Geld, die Mittel- schicht war riesig, die Wirtschaft boomte.
Und heute?
Ist das Gegenteil davon. Man hangelt sich – von Zukunftsängsten geplagt und mit einem Mastertitel im Sack – von Praktikum zu Praktikum. Dazu ist alles globalisiert. Als ich mit 21 in die USA ging, um zu arbeiten, war das noch etwas, worüber die Leute staunten. Heute hat jeder zweite schon mal im Ausland gejobbt.
Weshalb hat es mit der Selbstverwirklichung der Generation X trotzdem nicht geklappt?
Weil es bei vielen einzig darum ging, etwas zu kompensieren. Wenn man zu viele Möglichkeiten hat, kann man leicht vor sich selbst davonrennen. Doch irgendwann stolpert man. Zu viel Auswahl ist ein Hindernis. Zu wenig auch.
Sie schreiben in Ihrem Buch «Das Kind meiner Mutter», dass zwischen Ihren Eltern und Ihnen eine Generation verloren gegangen sei, weil Vater und Mutter schon vierzig waren, als Sie auf die Welt kamen. Heute ist das nichts Aussergewöhnliches mehr.
Damals schon. Meine Eltern wirkten ausser- dem nicht besonders jugendlich. Sie hatten den Krieg miterlebt, für mich stammten sie aus der Steinzeit. Die Leute meinten immer, meine Eltern seien meine Grosseltern. Das war mir peinlich.
Ist das vielleicht einer der Gründe, warum viele Eltern heute wieder derart überprotek tiv sind? Weil sie zu alt sind, um mit ihrem Nachwuchs locker umzugehen?
Ich glaube, das Alter ist egal. Weit wichtiger ist, dass man im Geist nicht hängen bleibt. Wenn man alles als böse betrachtet, was man selber in jungen Jahren nicht hatte – zum Beispiel das Internet – ist das nicht sehr fruchtbar. Man sollte auch etwas von seinen Kindern lernen können.
Taten das Ihre Eltern in einzelnen Bereichen nicht auch?
Nie und nimmer. Denn dazu hätten Sie sich ja auch mit sich selbst beschäftigen müssen. Das wollen sie lieber vermeiden. Bei ihnen geht es immer nur um Gott, Gott, Gott und allerlei esoterischen Ramsch.
Sie sind streng katholisch erzogen worden.
Genau. Bei meiner Mutter war der Katholizismus ein weiteres Mittel, um mich kontrollieren zu können. Sonst hatte sie in meinen Augen nichts mit Religion am Hut. Ihren Glauben legte sie an und ab wie eine ihrer Perücken. Mein Vater hingegen ist wirklich katholisch.
Inwiefern?
Er war sein Leben lang ein Diener. Ein treuer Soldat für die Firma, für die Familie, für Gott, den Papst. Sex beispielsweise ist für ihn nur erlaubt, um Kinder zu zeugen.
Welche Beziehung haben Sie heute zu Ihren Eltern?
Wir haben Kontakt, unsere Treffen verlaufen jedoch wie Business-Meetings. Jeder gibt dem anderen ein Update darüber, was er im Leben gerade so macht. Ich bin auch nicht besonders gespannt darauf, welche Gefühle mein Buch bei ihnen weckt. Denn über Emotionen wird bei uns noch immer kaum gesprochen.
Was sehen Sie, wenn Sie heute in den Spiegel schauen?
Einen gealterten Mann, der zufrieden ist mit sich selbst. Ich hatte sehr damit zu kämpfen, nicht mehr so leistungsfähig zu sein wie früher. Vor Ausbruch meiner Krankheit jettete ich angstlos durch die Welt, danach musste ich lernen, wieder aus dem Haus zu gehen.
Haben Sie starke Nebenwirkungen von den Medikamenten?
Manchmal zittere ich ein wenig an den Händen oder im Gesicht. Das wirklich schlimme an den Antidepressiva ist, dass sie deine Emotionen neutralisieren. Sie dämpfen nicht nur deine Ängste, sondern auch deine Freuden. Manchmal kann ich meinem Partner vielleicht nicht so gut zeigen, wie gern ich ihn habe. Ich hätte auch gerne einmal wieder einen richtigen Freudenausbruch. Können Sie das verstehen?
«Das Kind meiner Mutter», Wörterseh Verlag, erscheint am 25. April.
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