Journalist

«Ich mache hundert Prozent mein Ding»

In «Sonntagsblick Magazin», Gesellschaft on 20. November 2016 at 14:54
bild_tamyTamy Glauser (31) fällt auf. Das Topmodel macht mit seiner Liebe zu Ex-Miss-Schweiz Dominique Rinderknecht Schlagzeilen und verwischt die Grenze zwischen Mann und Frau.

Sie musste unzählige Castings hinter sich bringen, bis man sie in den Modemetropolen kannte. In der Schweiz reichte es, mit einer ehemaligen Schönheitskönigin in einer Disco zu knutschen.

Vor drei Wochen veröffentlichten Model Tamy Glauser (31) und Ex-Miss-Schweiz Dominique Rinderknecht (27) ein Video-Geständnis, das für mehr Aufsehen sorgte als sämtliche Aktionen der Lesbenorganisation Schweiz zusammen. Sie seien «es bitzeli verliebt» ineinander, sagten die beiden, während Hündchen Muffin im Hintergrund durchs Bild trippelte.

«Bis jetzt waren alle Rückmeldungen positiv, das freut mich», sagt Glauser zu SonntagsBlick, «Das Aufsehen, das unsere Videobotschaft erregt, zeigt aber auch, dass so etwas offensichtlich doch noch nicht so normal ist, wie es 2016 eigentlich sein müsste.»

Die Bernerin ist in Paris stationiert, unlängst ging sie dort zum sechsten Mal exklusiv für das Pariser Luxushaus Louis Vuitton über den Laufsteg. Wir treffen sie im Café Grande im Zürcher Niederdorf, um mit ihr über ihre Vorreiterrolle zu reden. Das Model prägt den Trend zur Androgynität massgeblich mit, die Angleichung der Geschlechter in der Mode – ja, vielleicht sogar in der Gesellschaft.

Ihre «Mère», wie Tamy sagt, war früher selbst Model und lebte lange getrennt von ihrer Tochter in den USA. Eine Nigerianerin, über die Glauser nicht viel verrät. Ausser, dass sie eine beurkundete Prinzessin sei. Tamys Vater ist Schweizer, sie wuchs bei Pflegeeltern auf. Die schwarzafrikanischen Wurzeln sieht man «Tämi», wie ihre Freunde sie nennen, auf den ersten Blick nicht an, aber sie sieht anders aus: hart und weich zugleich. Über felsernen Wangenknochen thronen braune Rehaugen, der Mund ist klein, die Lippen herausfordernd geschürzt.

Jemand hat Tamara Glauser, wie sie gebürtig heisst, einst als Mischung aus Kate Moss und Grace Jones beschrieben, Katze und Panther in einem. Wenn die toughe Tamy lacht, sieht sie wie ein kleines Mädchen aus, das sich über einen Ballon freut. «Ich finde, dass ich weder mega männlich noch sehr weiblich wirke», sagt Glauser. Sie gilt als erstes «Gender-Bending-Model»: Menschen, die mit dem Begriff Geschlecht umgehen, als sei er aus Gummi. Tamy lief als erste Frau an den Männermodeschauen von Givenchy oder Jean Paul Gaultier. Als sie sich den Schädel zum Buzz-Cut rasierte, wurde der zur Trendfrisur.

Solche Auftritte zeigen: Was wir dem angeborenen Geschlecht zuschreiben, ist geprägt durch gesellschaftliche Erwartungen. Dass wir zum Beispiel automatisch davon ausgehen, Frauen seien sanfte Wesen, die am liebsten glitzernde Cocktailkleider tragen. Oder Männer harte Kerle, die sich in robusten Cargo-Hosen am wohlsten fühlen. «Wir leben alle nach gewissen Codes», sagt Glauser. «Ich möchte den Leuten zeigen, dass man sie nicht immer einhalten muss.» Es sei aber nicht so, dass sie jeden Morgen neu entscheide, welches Geschlecht sie heute sein wolle, Mann oder Frau: «Ich bin ganz klar eine Frau.»

Die Solidaritätswelle, die prominenten Lesbenpaaren zurzeit entgegenschwappt, ist löblich. Was es heisst, Tamy Glauser zu sein, davon haben heterosexuelle Frauen, die jetzt zu ihren lesbischen Abenteuern stehen, aber keine Ahnung. «Es kommt im Leben oft zu mühsamen Situationen», sagt sie. Erst kürzlich sei sie an einer Ladeneröffnung an der Zürcher Bahnhofstrasse – zu der sie eingeladen war – von einem Türsteher in ein Hinterzimmer gezerrt worden. Nur, weil sie sich geweigert hatte, die Frage «Was hast du hier zu suchen?» zu beantworten. Als sie in der Not eine Kollegin anrufen wollte, riss der Mann ihr das Handy weg und schmiss es auf den Boden. Er wollte, dass Glauser durch den Hintereingang verschwindet. Durch Zufall kam ihr eine Bekannte zur Hilfe.

Glauser sagt, sie habe in der fünften Klasse begonnen, sich wie ein typisches Mädchen zu kleiden, weil es mit den Hänseleien ihrer Mitschüler immer schlimmer wurde. Von da an gehörte sie zu den Beliebten und vergass, dass sie sich für die anderen anpasste. Als sie mit 21 für ein paar Jahre nach New York zog, änderte sich das. Dort fühlte sich Glauser erstmals so akzeptiert, wie sie sein wollte.

Ausserhalb der US-Metropole sieht es jedoch anders aus. «Es liegt nicht nur an den Kleidern und den Haaren, sondern an meiner Aura, meiner Gestik, meiner Haltung.» Mittlerweile habe sie richtig Angst, auf eine öffentliche Toilette zu gehen, sagt Tamy Glauser. Egal ob in Paris oder Zürich: In neun von zehn Fällen werde sie entweder von anderen Frauen oder von Security-Angestellten angemotzt, angebrüllt, ja sogar weggeschubst. «Auf Männer-WCs hätte ich keine Probleme, aber ich habe echt keinen Bock, an den Pissoirs vorbei zu laufen. Ich bin kein Typ!» Bis es genügend Unisex-Toiletten gibt, müsse sie mit diesen Situationen wohl klarkommen, auch wenn sie verletzend seien.

Warum werden Menschen wie Tamy ausgerechnet in der Modewelt akzeptiert und gefeiert? «Weil sie voller Minderheiten ist», sagt Glauser. Niemand, der im kreativen Bereich der Industrie tätig sei, habe eine leichte Kindheit gehabt. «Wir haben uns zusammengefunden und sind plötzlich die Coolen.»

Was spricht dafür, dass Glauser auch ausserhalb der Hochglanzwelt die Toleranz fördern kann, zum Beispiel im 3000-Seelen-Dorf Stettlen bei Bern, wo sie aufwuchs? «Das Internet», sagt Glauser. Früher habe eine kleine Gruppe darüber entschieden, welches Geschlechterbild in den wenigen Magazinen, die es gab, gezeigt werde. «Heute kann sich jeder auf Social Media in Szene setzen, egal ob schwul, lesbisch oder trans.» Das führe dazu, dass vor allem Junge Andersartigkeit viel weniger «als etwas Komisches» betrachteten.

Kürzlich sei eine 40-jährige Frau auf sie zu gekommen, sagt Glauser, und habe sich bei ihr bedankt. «Sie sagte, ich hätte ihr mit meinem Auftreten gezeigt, dass lesbisch Sein nichts Schlimmes ist. Sie könne nun endlich dazu stehen und sei glücklich liiert. Solche Momente sind für mich das Grösste. Sie zeigen, dass meine Tätigkeit einen Wert hat.»

Und was, wenn schon morgen wieder ein anderer Look in Mode kommt? «Wenn Designer nicht mehr von mir inspiriert sind, ist es Zeit zu gehen. Ich glaube allerdings nicht, dass jemand meine Stelle einnehmen kann. Ersetzbar ist nur, wer sich anpasst. Und ich mache zu hundert Prozent mein Ding.»

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Version Blick.ch 

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