
Frau Dembling, telefonieren Sie gerne mit mir?
Sophia Dembling: Absolut. Aber zum Glück muss ich nicht Smalltalk machen und kann über mein Spezialgebiet sprechen.
Sie bezeichnen sich selber als professionelle Introvertierte. In einem Ihrer Ratgeber beschreiben Sie Telefonieren als Tätigkeit, die in sich gekehrten Menschen Kummer bereitet. Warum?
Anrufe erschrecken und überrumpeln mich, als würde jemand aus einem Schrank springen und «Buh!» rufen. Introvertierte können sich zwar intensiv auf etwas konzentrieren, aber nicht auf Knopfdruck zu einer anderen Tätigkeit wechseln. Werde ich beim Denken unterbrochen, fühlt sich das an, als würde ich aus dem Schlaf gerissen.
Ein Minderheitenproblem?
Von wegen. Es gibt mehr Introvertierte, als man denkt. Schätzungsweise ist rund die Hälfte meiner Landsleute eher introvertiert – obwohl Amerikaner gemeinhin als extrovertiert gelten.
Wie unterscheiden sich eigentlich die beiden Seiten?
Der Psychiater C. G. Jung hat es so definiert: Introvertierte verlieren Energie, tauschen sie sich sozial mit anderen aus. Bei Extrovertierten verhält es sich umgekehrt.
Sind Introvertierte deshalb im Nachteil?
Eigentlich nicht. Sie können genauso Karriere machen und glücklich sein, einfach auf andere Art. Das Problem ist, dassIntrovertierte zu wenig auf sich aufmerksam machen.
In welchen Situationen etwa?
Sitze ich an einer Party allein in der Ecke, kommen ständig Leute zu mir und fragen: «Alles klar bei dir, gehts dir gut?» Sie können nicht verstehen, dass ich in einem Raum voller plappernder Leute glücklich sein kann, wenn ich die einzige Ruhige bin. Es ist wichtig, dass ich das den Fragenden mitteile.
Mich fordern Leute an Partys manchmal auf, mehr zu lachen. Ich hasse es.
Ich verstehe Ihre Reaktion, aber auch den Einwand der anderen. Wahrscheinlich machen sie sich ernsthaft Sorgen um Ihre Befindlichkeit.
Was ist eigentlich der Unterschied zwischen Introversion und Schüchternheit?
Introversion ist ein Wesenszug, man ist dazu getrieben. Schüchternheit hingegen ist ein Verhalten, das auf Angst basiert. Ich bezeichne mich als «nicht schüchterne Introvertierte», gehe an Partys, wenn es unbedingt sein muss, und kann gut vor Leuten sprechen. Solange ich zwischendurch immer wieder einsame Phasen habe, in denen ich Energie tanken kann, führe ich mich auf wie eine Extrovertierte.
Schüchtern und introvertiert: Das scheint mir eine schwierige Kombination.
Sie ist sicher nicht einfach. Am schwersten haben es aber schüchterne Extrovertierte.
Wie funktionieren denn die?
Diese Menschen wollen gerne im Mittelpunkt stehen, haben aber gleichzeitig Angst davor, sich zum Narren zu machen.
Sie gehen davon aus, dass vier von zehn US-Führungskräften introvertiert sind. Salopp formuliert: Man kann es also im Beruf auch ohne grosse Klappe zu etwas bringen?
Eine Studie der Harvard University sagt, dass Teams aus extrovertierten Mitarbeitern am besten mit einem introvertierten Boss funktionieren. Oder umgekehrt. Es braucht also beide Sorten von Führungskräften. Auch das Bild des extrovertierten CEOs, der schnelle Entscheidungen trifft, ist nicht immer zutreffend.
Weshalb?
Es hat keinen Einfluss auf den Erfolg einer Firma, ob ein CEO die Dinge schnell beschliesst oder sich Zeit dazu lässt. Es sind einfach andere Arten, Entscheidungen zu treffen.
Sie sagen, Introvertierte müssten Ruhe haben, um Kraft zu tanken. Das ist in Grossraumbüros kaum mehr möglich.
Es gibt keinen Introvertierten, der sich nicht schon mal auf der Toilette versteckt hat. Aber seien wir ehrlich: Niemand mag Grossraumbüros.
Wer ist in diesem Umfeld leichter ablenkbar: die Intro- oder die Extrovertierten?
Der Introvertierte ist abgelenkt, weil er Gespräche hören muss, die er nicht hören will. Der Extrovertierte, weil er am liebsten bei jedem Gespräch mitreden möchte.
Schweizer gelten als eher introvertiert und bemängeln das oft an sich selbst. Kehren sie beispielsweise aus den Ferien heim, schwärmen sie, wie offener und spontaner die Menschen in fernen Ländern sind. Unser Idealbild ist der entspannte Südländer, der mit jedem ins Gespräch kommt.
Solche Komplexe sind typisch für Introvertierte und entstehen, wenn sie sich mit den Wertmassstäben von Extrovertierten messen. Sie könnten sich aber auch mit Ländern wie Japan vergleichen. Dort wird Introversion honoriert – und als Tugend betrachtet.
Sie erwähnen in Ihren Ratgebern auch Stars wie Steve Martin oder Julia Roberts, die erfolgreich sind, obwohl sie als introvertiert gelten. Jüngere Stars müssen sehr präsent sein auf den Social-Media-Kanälen – haben Introvertierte da überhaupt noch eine Chance?
Introvertierte können oft sehr gut mit Social Media umgehen. Ich selbst liebe Facebook, weil es mir kontrollierbare soziale Interaktionen bietet. Viele Introvertierte lernen ihre Partner im Netz kennen, weil es dort einfacher ist, den ersten Schritt zu machen. Trifft man sich dann zum ersten Date, fühlt es sich an, als würde man ein Gespräch weiterführen. Introvertierte Stars stehen aber unter starkem Druck, das stimmt.
Weshalb?
Nehmen wir Kristen Stewart aus den «Twilight»-Filmen, sie ist klar introvertiert und musste schon mehrfach Kritik dafür einstecken. Offensichtlich reicht es nicht mehr, als Schauspielerin Filme zu machen. Die Öffentlichkeit erwartet, dass die Stars sie rund um die Uhr unterhalten. Introvertierte haben aber nicht das Gefühl, dass sie das jemandem schuldig sind.
Fünf Tipps für Introvertierte
1. Wenn Sie sich von Telefonanrufen überrumpelt fühlen: Machen Sie per E-Mail eine genaue Zeit ab, wann Sie das Gespräch führen wollen – und rufen Sie selber an.
2. Sie wollen eine Party früher als die anderen verlassen, fürchten aber, dass das schlecht ankommt: Tun Sie es trotzdem – die Party geht auch ohne Sie weiter.
3. Sie hassen Anlässe, an denen Sie mit möglichst vielen Menschen sprechen sollen, um Networking zu betreiben? Dann konzentrieren Sie sich auf Geschäftsessen, an denen Sie andere in Ruhe kennenlernen können.
4. Introvertierte bekunden oft Mühe, sich in Sitzungen einzubringen. Gehen Sie danach auf Ihren Chef zu und geben Sie ihm Ihre Inputs unter vier Augen.
5. Vielen fällt es schwer, in Beziehungen über ihre Gefühle zu sprechen: Schreiben Sie auf, was Sie sagen wollen, und lesen Sie es Ihrem Partner vor.
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