In der Schweiz geben sich immer mehr Jugendliche als transsexuell zu erkennen. So auch Roman (15), der als Mädchen zur Welt kam, damit aber nicht leben will.
Auf den ersten Blick wirkt er wie ein durchschnittlicher Bursche: kurze Haare, Käppi, Hip-Hop-Style. Roman (15), wie wir ihn hier nennen, sitzt in einem Café in Zürich und erzählt vom Tag, als er zum ersten Mal von Transsexualität las: «Das war vor etwas über einem Jahr im Internet. Seither hat sich in meinem Leben viel verändert.» Roman ist etwas schüchtern – wie es auch Erwachsene wären, müssten sie über ihre intimsten inneren Kämpfe erzählen. Sein Kampf begann kurz nach der Geburt. Er war mit einem Körper zur Welt gekommen, in dem er sich, wie er sagt, nicht wohlfühlte: im Körper eines Mädchens. «Seit ich mich erinnern kann, wollte ich ein Bub sein.» Mittlerweile hat er seinen Wunsch ein gutes Stück umgesetzt.
Sie sorgen gerade für Gesprächsstoff: Jugendliche, die sich in ganz jungen Jahren mit ihrem biologischen Geschlecht nicht identifizieren können – und so leben wollen, dass es für sie stimmt. Wie viele es sind, weiss niemand. Gemäss Schätzungen sind ein bis zwei Prozent der Erdenbürger transsexuell veranlagt. Sicher ist: Es sind mehr als lange Zeit angenommen. Und sie geben sich früher zu erkennen.
Aufsehen erregte letzten Dezember das tragische Schicksal des US-Teenagers Leelah Alcorn. Sie nahm sich mit 17 das Leben und schrieb in ihrer Abschiedsnotiz, sie hoffe, dadurch auf die Diskriminierung von Transsexuellen respektive Trans-Menschen, wie sie lieber genannt werden wollen, aufmerksam zu machen. Alcorn kam als Kind konservativer Christen in Ohio zur Welt, die nicht akzeptieren mochten, dass ihr Sohn sich als Frau fühlt.
Auch Jazz Jennings aus Miami will die Öffentlichkeit für das Thema sensibilisieren, glücklicherweise weit unbelasteter: Als Junge geboren, lebt die 14-Jährige heute als Mädchen – und tritt als Transgender-Aktivistin im Fernsehen auf, veröffentlicht Kinderbücher, ist Werbe-Ikone für Anti-Pickel-Mittel.
Oder der erst siebenjährige Ryland aus San Diego, der als Mädchen zur Welt kam. Seine Eltern stellten ein Youtube-Video über seine Entwicklung ins Netz, dieses wurde bereits über siebeneinhalb Millionen Mal angeklickt.
Und in der Schweiz? Eine vom KJPD (Kinder- und Jugendpsychiatrischer Dienst des Kantons Zürich) speziell eingerichtete Sprechstunde für Geschlechtsidentitätsfragen wird mit Anfragen überhäuft. «Zu uns kommen vor allem Jugendliche, die sich als Trans (siehe Box) definieren, und deswegen behandelt werden wollen», sagt Chefärztin Dagmar Pauli, Leiterin der Sprechstunde. In den letzten drei Jahren, fährt sie fort, habe sich die Nachfrage verfünffacht – das gelte auch für Fachstellen mit ähnlichen Angeboten in Holland, England und Deutschland.
Rund fünfzig Jugendliche und Kinder hat Pauli bislang betreut. Neue kommen stetig dazu, zu gleichen Teilen Mädchen und Jungen. Vor allem Jugendliche ab etwa zwölf Jahren melden sich bei der Fachstelle. «Weil sie mit den Veränderungen ihres Körpers nicht zurechtkommen, steigt der Leidensdruck, viele werden depressiv», sagt Pauli. TV-Serien und Reportagen, in denen Trans-Menschen vorkommen, machten auf das Thema aufmerksam. «Wenn Jugendliche sich so fühlen wie diese Menschen, landen sie womöglich bei mir.»
Auch Roman, der in der Innerschweiz lebt und in der Nähe von Zürich ein Internat besucht, nimmt die Hilfe der Expertin in Anspruch. «Spielte ich früher mit meinen Geschwistern Familie, wäre ich immer gerne der Papi gewesen», sagt er. «Aber ich habe mich nie getraut, es den anderen zu sagen.»
Weniger Fett, kleinere Brüste
Der Junge erzählt von einem Leidensweg, wie ihn viele Trans-Menschen kennen: von verhassten Mädchenkleidern, die er zu Weihnachten geschenkt bekam, von den ersten Anzeichen des Erwachsenwerdens – und davon, wie er sich danach noch weniger mit seinem Körper identifizieren konnte als eh schon. «Am Anfang dachte ich, das sei normal für die Pubertät – irgendwann war das Fass voll, und ich habe mir Hilfe geholt.»
Der 15-Jährige ist etwas übergewichtig, er will abnehmen. Ausgewogene Ernährung, Krafttraining, das übliche Programm. «Nimmt der Fettanteil im Körper ab, sind auch meine Brüste kleiner – und man sieht die Muskeln besser», sagt er: «Das klappt im Moment aber noch nicht so gut.»
Der junge Mann trägt derzeit eine Kompressionsweste unter seinem Hemd, die presst seine Brüste flach. Sobald er 16 ist, will er mit einer Hormontherapie starten, mit Testosteron. Seine Eltern haben dazu bereits ihr Einverständnis gegeben. Roman ist gut informiert, wie er das männliche Geschlechtshormon einnehmen kann: «Mit der Spritze, als Medikament oder als Pflaster.» Und über die Wirkungen: «Tiefere Stimme, Bartwuchs, mehr Muskeln, weniger Fett.» Auch aggressives Verhalten sei nicht selten, sagt er. «Aber das ist ja normal für Buben meines Alters.» Roman ist sportbegeistert, spielt in einem Frauenfussball-Team. Nach dem Start der Hormontherapie muss er womöglich die Mannschaft verlassen, Testosteron steht auf der Doping-Liste. In der Schule turnt er mit den Buben. «Meitli sind für mich einfach zu schwach.»
Für die Mutter ein Schock, für die Geschwister nicht
Wäre Roman früher beraten worden, hätte man ihm Pubertätsblocker verschreiben können. Diese Medikamente zögern die Pubertät hinaus – und damit auch die körperlichen Veränderungen, die sich schwer bis gar nicht rückgängig machen lassen: das Wachsen der Brüste, das Einsetzen der Periode. Blocker seien vor allem bei Trans-Mädchen relevant, sagt Pauli. Also Buben, die sich als Mädchen fühlen. «Man überlegt zum Beispiel, ob man bei ihnen den Stimmbruch zulässt. Denn mit tiefer Stimme ist es schwierig, trans zu leben.»
Die Pubertätsblocker schenken Trans-Jugendlichen etwas Zeit, um sich zu überlegen, wie es mit ihnen weitergehen soll. Setzen sie die Blocker ab, macht der Körper den Rückstand schnell wett – sofern keine geschlechtsangleichenden Hormone genommen werden. «Ab 18 stellt sich dann auch die Frage, ob sich jemand eine operative Geschlechtsangleichung wünscht», sagt Pauli.
«Sobald ich volljährig bin, möchte ich die Brüste entfernen lassen», sagt Roman. «Untenrum bin ich mir aber noch nicht so sicher, das ist noch Zukunftsmusik.» Vorher will er seinen Vornamen im Pass ändern lassen. In der Schweiz ist das generell möglich – ohne dass Trans-Menschen gleichzeitig den Eintrag fürs Geschlecht ändern müssen. Roman erzählt erstaunlich differenziert aus seinem jungen Leben. «Es war für mich lange Zeit schwierig, mein Trans-Sein zu akzeptieren», sagt er. «Auch meine Mutter ist im ersten Moment arg erschrocken, als ich ihr davon erzählte. Sie machte sich Sorgen um meine Zukunft.» Und er? Roman möchte eine Lehre als Hochbauzeichner machen. Ob er sich als Frau oder als Mann für eine Lehrstelle bewerben soll, weiss er noch nicht.
Mittlerweile hat sich die Aufregung gelegt. Die Mutter steht voll hinter ihrem Sohn. Genau wie der Vater, der von der Mutter getrennt lebt. «Und für meine Geschwister war es sowieso keine grosse Überraschung», sagt Roman. Auch im Internat wüssten «es» alle, und er sei deswegen noch nie diskriminiert worden. Obwohl er bei fast all seinen Nächsten als Trans geoutet ist, will er sein Gesicht in der Zeitung trotzdem nicht zeigen. «Es gibt entfernte Verwandte, die davon nichts wissen.»
Gang aufs Männer-WC erfordert für Roman jedes Mal Mut
Wie er sagt, versucht Roman «das Ganze» positiv zu sehen, «so wie Balian Buschbaum», sein grosses Vorbild. Der 34-jährige Deutsche war früher als Yvonne Buschbaum erfolgreiche Leichtathletin. Nun ist er ein attraktiver Mann, nahm unter anderem an der TV-Tanzshow «Let’s Dance» teil. «Er hat einen tollen Körper», sagt Roman: «So einen will ich auch.»
Trotzdem gibt es Momente, in denen auch Optimismus nicht reicht – und es sich zeigt, dass für ihn das Leben komplizierter ist als für andere. Oft genug im Alltag, etwa beim Gang auf die Toilette. Der ist für -Roman noch immer mit Angst und Unsicherheit verbunden. Soll er das Frauen- oder das Herren-Klo benutzen? «In einem Café, in dem mich keiner kennt, traue ich mich aufs Männer-WC. In der Schule aber, wo ich geoutet bin, gehe ich ins WC für Rollstuhlfahrer.»
Erzählen Romans Kollegen von ihren Abenteuern mit Mädchen, wird er still. «Ich hatte noch nie eine Freundin. Es gibt Momente, in denen macht mich das fertig.» Was aber, wenn ihm eine gefällt? «Dann stelle ich mich als Mann vor und erzähle ihr meine Geschichte erst, wenn es ernst wird. Vielleicht akzeptiert sie es, vielleicht nicht.»
Braune Haare und Augen hat sie, Romans Traumfrau. Wie Shay Mitchell aus seiner Lieblingsserie «Pretty Little Liars». «Aber vor allem soll sie offen sein und ein gutes Herz haben.»
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