Tom Rob Smith gilt als Krimi-Wunderkind. Bereits sein erster Roman «Child 44», Teil 1 einer Trilogie, gewann den internationalen Thriller-Award als bestes Debüt und kommt jetzt als Verfilmung ins Kino. Das Sonntags-Blick Magazin traf den 36-jährigen Briten, der gerade am Drehbuch seines jüngsten Bestsellers schreibt, in Genf.
Tom Rob Smith, die Verfilmung Ihres Debüt-Romans «Child 44» wurde in Russland verboten. Was haben Sie gedacht, als Sie davon hörten?
Tom Rob Smith: Ich konnte es kaum fassen. Das Filmposter war bereits in kyrillischer Schrift gedruckt und sah toll aus. Der Film war synchronisiert und hätte in 500 Kinos gezeigt werden sollen. Ein paar Tage vor der Premiere erfuhr ich, dass der Kulturminister die Vorführung verboten hat.
Der Film spielt in der Stalin-Ära der Sowjetunion der 1950er-Jahre. Er handelt von einem KGB-Mann, der einen Serien-Killer jagt. Der Vorwurf: Fakten würden verdreht, die Menschen und das Land zu jener Zeit absichtlich falsch dargestellt.
Wie in jedem Film gibt es auch in «Child 44» Dinge, die ausgeschmückt sind. Im Abspann sind sie alle aufgeführt. Fakt ist, dass Stalin ein brutales Regime aufrechterhielt und grosses Elend über Millionen Menschen brachte. Ich glaube, das Verbot des Films beruht nicht darauf, dass Dinge falsch dargestellt werden. Sondern darauf, dass ich sie überhaupt darstelle.
Welche Dinge?
Zum Beispiel der Kontrast zwischen dem Reichtum Moskaus und der Armut der ländlichen Gebiete. Oder die Existenz homosexueller Männer und ihre Verfolgung.
Waren Sie selbst schon in Russland?
Ja, zwei Mal, aber es ist schon eine Weile her. Ein wunderschönes Land! Ich bin hundertprozentig davon überzeugt, dass ich heute leider kein Visum mehr erhalten würde. Aber ich hätte sowieso Angst davor, nach Russland zu reisen.
Weil Sie homosexuell sind?
Ja. Nirgendwo ist das Klima im Moment schwulenfeindlicher als in Russland.
Sie haben in Cambridge Literatur studiert und Ihre Karriere als Drehbuchschreiber begonnen. Unter anderem für die erste Seifenoper Kambodschas. Wie kommt man zu so einer Anstellung?
Ich war 21 und auf Jobsuche, als ich hörte, die BBC produziere dort eine Serie im Rahmen einer Wohltätigkeitsaktion. Schauplatz war ein Spital. In jeder Folge wurde den Zuschauern eine Gesundheits-Botschaft vermittelt. Zum Beispiel, wie sie sich vor HIV schützen können. Ich wurde angestellt und zog für ein halbes Jahr nach Phnom Penh.
Kambodscha litt wie Russland unter einem totalitären Regime. Besteht da ein Zusammenhang zu Ihrer späteren Arbeit?
Ohne die Zeit in Kambodscha wäre «Child 44» nicht entstanden. Ich las damals praktisch jedes Buch über die Terror-Herrschaft der Roten Khmer und besuchte die Killing Fields und andere Orte des schrecklichen Massenmords, den dieses Regime begangen hat. Ich fand totalitäre Regime schon immer interessant.
Weshalb?
Weil sie die Welt neu erfinden. Deshalb sind viele totalitäre Herrscher auch so fasziniert von uns Schriftstellern: Sie denken, fassen» wir tun dasselbe. Aber wir entwerfen die Welt nicht so, wie wir sie haben wollen, sondern so, wie sie ist oder sein könnte. Das ist ein riesiger Unterschied.
Sie waren erst 29 Jahre alt, als «Child 44» und damit der erste Teil der Leo-Demidow-Trilogie herauskam und zugleich zum Bestseller wurde. Wie gross ist die Angst, das nicht überbieten zu können?
Ich bin fest davon überzeugt, dass die Zukunft immer noch etwas Besseres für mich bereithält. «Child 44» hat es in England auch nie auf Platz eins der Bestsellerliste geschafft, mein neuster Roman «The Farm» aber schon. Sogar direkt!
Wie wichtig ist Ihnen Erfolg?
Ich habe im zweiten Jahr an der Universität einmal ein Bühnenstück geschrieben. Es sassen jeweils nur 15 Leute im Zuschauerraum – so gut wie keine. Ich habe mir damals gesagt, dass ich nie mehr so viel Effort in etwas stecken will, das niemand beachtet. Andere Künstler würden jetzt anmerken, es reiche, wenn man selbst auf seine Arbeit stolz sein kann. Aber da funktioniere ich anders.
In der Kunst wird vieles erst später entdeckt.
Ich möchte aber Dinge machen, die eine direkte Verbindung zur Gegenwart haben. Wenn meine Arbeit nicht in irgendeiner Form einschlägt, habe ich versagt.
Warum haben Sie das Drehbuch zu «Child 44» eigentlich nicht selbst geschrieben?
Das Studio wollte damals jemanden mit mehr Erfahrung. Das Drehbuch für die Verfilmung meines neusten Romans stammt aber aus meiner Feder.
Der Roman heisst in der deutschen Übersetzung «Ohne jeden Zweifel» und basiert auf einem Vorfall in Ihrer Familie. Was war passiert?
Eines Tages rief mich mein Vater aus Schweden an, wo meine Eltern lebten, und sagte, meine Mutter habe eine Psychose erlitten. Ich kaufte sofort ein Flugticket, um sie zu besuchen. Doch als ich in London, wo ich wohne, am Flughafen war, rief meine Mutter an. Sie sagte, mein Vater lüge und sei in eine kriminelle Verschwörung verwickelt. Sie sei gar nicht verrückt – und übrigens unterwegs nach London, um mir alles zu erklären. Als sie kam, nahm ich sie mit in meine Wohnung, wo sie mir ihre Version erzählte. Das ist der Punkt, an dem der Roman einsetzt.
Wie ist die Sache in der Realität ausgegangen?
Meine Mutter musste drei Wochen in eine Klinik und hat sich vollständig erholt. Heute berät sie in London Frauen, die eine Psychose erlitten haben.
Haben Sie Ihrer Mutter geglaubt?
Das Krasse war, dass ich einen Moment lang wirklich nicht wusste, was wahr ist. Meine Mutter war der Geschichtenerzähler, nicht ich. Wenn sie merkte, dass ich stutzig wurde, hat sie Details hervorgezaubert, bis meine Zweifel abnahmen.
Klingt nach einem traumatischen Erlebnis.
Es ist komisch, wenn du als Erwachsener plötzlich wieder wie ein Kind der Mutter zuhörst, wie sie dir Geschichten erzählt.
Und etwas dreist, dass Sie daraus gleich noch einen Roman machen.
Wir hätten den Vorfall als Familie auch einfach unter den Teppich kehren können. Aber ich musste einfach darüber schreiben.
Wenn Sie einen Krimi schreiben würden, der in der Schweiz angesiedelt ist, wo würden Sie ansetzen?
Wie Schweden, wo meine Mutter herkommt, ist auch die Schweiz ein wohlhabendes, sicheres Land mit einer prächtigen Landschaft. Wenn ich hier bin, fühle ich: Das ist das gute Leben! Vergangenen Sommer schwamm ich im Genfersee und wähnte mich im Paradies. Aber wie immer denke ich in solchen Momenten gleich: Welche dunklen Seiten verbergen sich dahinter? Vielleicht gar keine. Aber mein Gehirn sagt: Doch!
«Child 44» Jagd nach einem Serien-Killer, den es nicht geben darf
Die Sonne scheint selten, die Menschen sind bleich und vergrämt. Sie bespitzeln und bekämpfen sich, und wenn es hart auf hart kommt, kämpfen sie mit stumpfen Gegenständen, bis das Blut spritzt. Die Darstellung der Sowjetunion zu Zeiten Stalins wirkt im Film «Child 44» mitunter etwas zu dick aufgetragen – genau wie der übertriebene russische Akzent, mit dem Englisch gesprochen wird. Dass trotzdem Spannung aufkommt, liegt am Klima des Verrats und der Paranoia, das Regisseur Daniel Espinosa («Safe House») glaubwürdig vermittelt. Hauptfigur Leo Demidow (Tom Hardy) befindet sich in einer verzwickten Lage. Der in Ungnade gefallene KGB-Agent wird mit Frau Raisa (Noomi Rapace) von Moskau in die russische Pampa versetzt, von wo aus er mit Hilfe des ortsansässigen Polizeikommandanten (Gary Oldman) eine Mordserie aufklärt, die tatsächlich stattgefunden hat. Andrei Tschikatilo, genannt «der Ripper von Rostow», tötete von 1978 bis 1990 52 Frauen und Kinder und wurde 1994 exekutiert. Der Film verlegt die Geschehnisse in die 1950er-Jahre, als Stalin eine perfekte Gesellschaft propagierte, in der es offiziell keine Morde gibt.
«Child 44», ab 4. Juni in den Kinos
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