Journalist

Urbanes Landleben 

In «Sonntagsblick Magazin», Gesellschaft on 19. April 2015 at 09:11
bild_kalkiIn der Zürcher Überbauung Kalkbreite erproben 251 Menschen die Zukunft des Wohnens. Auf Besuch in der grössten Experimentierstube der Schweiz. 

Die Kalkbreite ist meine Sandburg», sagt Pablo Reininger. «Manchmal habe ich das Gefühl, sie sei meinen Träumen entsprungen.» Vor gut einem Jahr ist der 34-jährige Deutsche, der seit 13 Jahren in der Schweiz lebt, hier eingezogen: in die Überbauung über einem Tramdepot, das aufregendste Wohnprojekt Zürichs, wenn nicht sogar der Schweiz. 251 Menschen leben als Genossenschafter in der Siedlung mitten in der Stadt – unter der Maxime «Verdichtetes Wohnen», eine Form, die oft mit Utopien der 1980er-Jahre in Verbindung gebracht wird.

An erster Stelle steht auf dem Areal nicht das Private, sondern die Gemeinschaft. Jeder Bewohner, einschliesslich der Kinder, hat zwar seine eigenen vier Wände, in die er sich zurückziehen kann. 600 Quadratmeter des Gebäudes sind aber für Gemeinschaftsräume reserviert: neben Begegnungsorten wie einer Cafeteria auch eine Bibliothek, diverse Ateliers, ein Fitness-Center, Näh- und Bügelräume sowie eine Sauna.

«Eine Wohnung für mich alleine zu mieten, fände ich komisch», sagt Reininger. Er wohnt in einer 7er-WG im obersten Stock des Komplexes und teilt sich dort sein Bad mit einem Rollstuhlfahrer. Kommt er abends nach Hause, sitzt meist noch die zehnjährige Nachbarin Sanne vom unteren Stock im Gemeinschaftsraum seiner WG und macht am Küchentisch ihre Hausaufgaben. Warum? «Sie scheint sich hier wohlzufühlen», sagt Reininger. «Erst gestern haben Sanne und ich im Mal-Atelier gemeinsam T-Shirts gebatikt.»

Bewohner müssen putzen und auf dem Bauernhof aushelfen

In der «Kalki», wie Stadtzürcher das verschachtelte Gebäude im pulsierenden Kreis 4 nennen, sollen möglichst viele Bewohner möglichst wenig Raum optimal nutzen, ihre sozialen Kompetenzen fördern und Ressourcen sparen. Wer hier einzieht, darf kein Auto besitzen. Das Gebäude ist zudem nach Minergie-P-Eco-Standard gebaut, Wärme für Heizung und Warmwasser wird aus dem Grundwasser gewonnen. Das Konzept orientiert sich an der 2000-Watt-Gesellschaft – ein Entwurf, der vorsieht, den Energieverbrauch pro Person bis im Jahr 2100 um zwei Drittel zu reduzieren ( lesen Sie dazu den Kasten auf Seite 10).

Ein ehrgeiziges Ziel, das mitten im urbanen Raum angegangen werden muss. Denn dort leben die meisten Menschen, bereits drei Viertel der Schweizer Bevölkerung. Und der Druck wird weiter wachsen. Die Zukunft des Wohnens muss überdacht werden. Eine der Möglichkeiten, der befürchteten Verslumung und Vereinsamung der Menschen entgegenzuwirken, sind Wohnformen wie jene der Kalkbreite: Überbauungen, die wie urbane Dörfer in sich geschlossen funktionieren, sich aber gegen aussen nicht abschotten. Die Kalkbreite beherbergt Büros, eine Pension, eine Kindergrippe. Grosse Teile des Areals sind für alle Stadtbewohner zugänglich – genauso die Restaurants, Bars, der Bio-Supermarkt, diverse Shops und ein Kino, das wegen eines Brandes allerdings bis auf weiteres geschlossen ist.

Der Bewohner teilt sogar seinen Hund mit anderen

In der Kalki gelten strikte Belegungsvorschriften. Kein Bewohner darf mehr als zwei Zimmer für sich beanspruchen, neben Familienwohnungen und WGs gibt es 1-Zimmer-Wohnungen mit eigenem Bad und eigener Küche, die zu sogenannten Clustern mit grossem Gemeinschaftsraum zusammengeschlossen sind. Die Bewohner dürfen durchschnittlich nicht mehr als 35 Quadratmeter Wohnfläche beanspruchen, Gemeinschaftsfläche inklusive. Zum Vergleich: Der Schweizer Durchschnitt liegt derzeit bei rund 45 Quadratmetern. Ziehen Kalki-Kinder aus, müssen ihre Eltern in kleinere Wohnungen umsiedeln.

Reiningers WG ist an einen sogenannten Grosshaushalt angeschlossen, zu dem gehören 50 Personen. Sie teilen sich eine Gemeinschaftsküche, in der eine Köchin täglich für neun Franken ein Menü zubereitet. Das Gemüse, das hier gekocht wird, stammt von einem Bauernhof, auf dem Reininger mindestens fünf Mal pro Jahr aushelfen muss. Nach unserem Besuch wird er noch die Putzschicht einer Mitbewohnerin übernehmen, der etwas dazwischengekommen ist. 40 Franken muss sie ihm dafür zahlen, so sind die Regeln.

Was bewegt einen jungen, alleine lebenden Mann, sich in eine Gemeinschaft zu begeben, die stark ans Zusammenleben einer Familie erinnert? «Das Konzept des Teilens macht viel Sinn für mich», sagt Reininger. Er sieht sich als Teil der «Generation Sharing»: Konsumenten, die mit Social Media aufgewachsen sind, mit Plattformen wie Mobility und Airbnb.

Warum sollte er, fragt Reininger, ein eigenes Bügeleisen kaufen, wenn er jenes im Nähatelier des Grosshaushalts nutzen kann? «Besitz macht mich nicht glücklich, ich empfinde ihn als Klotz am Bein.» Sogar sein Haustier teilt sich der Mann mit ein paar Leuten, allerdings ausserhalb der «Kalki». Falls es ihm in seiner Sandburg mal zu eng wird, geht er mit seinem Kollektivhund Gassi. Einem Jack Russell Terrier namens Lucky.

Reininger, der am Theater Basel als Herrenschneider arbeitet und in Zürich Fashion Design Technology studiert, zahlt für sein WG-Zimmer monatlich rund 900 Franken, rund hundert Franken gibt er in der Gemeinschaftsküche für das Essen aus. 1000 Franken für Kost und Logis – damit käme man in Zürich auch in einer regulären WG durch. Ohne dass man sich in eine Genossenschaft einkaufen muss. Fast 10 000 Franken schoss Reininger als Darlehen ein, bevor er in sein 15 Quadratmeter grosses WG-Zimmer einziehen durfte. «Das ist viel Geld», sagt er. «Zum Sparen zieht niemand hierher.»

Anderswo könnte er sich für dieses Geld aber niemals eine so grosse Terrasse leisten, fügt er an. Dass alle 50 Mitglieder des Grosshaushalts, die auf die Terrasse wollen, durch den Korridor seiner WG laufen müssen, stört ihn nicht. «Wir haben die Leute einfach gebeten, leise zu sein.»

«Das könnte ich nicht», kriege er oft zu hören, wenn er von seinem Wohnort erzähle, sagt Reininger. «Dabei habe ich hier so viel Ruhe, wie ich will.» Generell habe er kein Bedürfnis, sich von anderen Menschen abzuschotten. Da gehe er lieber in die Cafeteria rüber, um Leute zu treffen. «Abends vor die Kiste zu hocken – das hat etwas Eigenbrötlerisches. Fernsehen ist asozial.»

Die neue Lebensform will besprochen sein

Wer nicht gerne mit anderen Menschen kommuniziert, hat in Reiningers Welt schlechte Karten, denn die neue Form des Zusammenwohnens will fleissig besprochen sein. In zahlreichen Arbeitsgruppen wird diskutiert, wie man das Leben organisieren will. In einer etwa das Wohnen mit Familie. Eine andere regelt den Anbau der grossen Gemüsebeete oben auf dem Dach der Kalkbreite. Für Reininger bislang das Einzige, was ihm in seiner Sandburg Mühe bereitet. «Für mich ist Gärtnern etwas, was ich für mich allein mache», sagt er. «Dass ich mit anderen erst darüber sprechen muss, wie ich einen Topf bepflanzen will, hat mich bisher davon abgehalten.»

In der Kalkbreite wird über vieles abgestimmt. Ist nur ein einziger Bewohner gegen einen neuen Schrank im Gemeinschaftsraum, wird darauf verzichtet. «Wer sich gut präsentiert, hat die meisten Stimmen für sich», sagt Reininger. Der ständige Informationsfluss könne einen aber mitunter überfordern. «Man kann nicht jedes Mail lesen und an jeder Sitzung teilnehmen. «Ich lebe in der ständigen Angst, womöglich wichtige Informationen zu verpassen.»

«Hier kannst du nicht einfach nur motzen, du musst etwas machen», sagt Martin Furler Bassand. Er wohnt seit Juni mit seiner Frau Françoise und den zwei Kindern im Teenageralter in der «Kalki»: in einer 120 Quadratmeter grossen 5½-Zimmer-Wohnung mit Blick auf den Innenhof. Der 49-Jährige arbeitet als Art Collection Manager für die Firma Ringier, zu der auch der SonntagsBlick gehört. Er war als überzeugter Genossenschafter bereits ins Projekt involviert, als dieses noch eine Idee war.

Per Zeitungsannonce wurden vor mittlerweile fast zehn Jahren Menschen aus dem Quartier aufgerufen, sich an der Entwicklung der «Vision Kalkbreite» zu beteiligen. «Genau das unterscheidet das Projekt von ähnlichen», sagt Furler Bassand. «Schon bevor die Siedlung gebaut wurde, haben wir uns gefragt: Wer soll hier dereinst wohnen, wer hier arbeiten?» Heute lebt ein buntes, sozio-ökonomisches Gemisch unter dem gleichen Dach: Familien, Singles, Alt, Jung, gut und weniger gut Situierte. «Ein Abbild der Schweizer Durchschnittsbevölkerung», sagt Furler Bassand. «Nur über 70-Jährige sind bei uns noch nicht so gut vertreten.»

Duschen mit zehn Litern pro Tag ist auch für Teenager machbar

Nebst der Sauna- und der Gartengruppe engagiert sich Furler Bassand im Projekt «Leichter Leben». In seiner Wohnung wird gemessen, wie viel Energie und Wasser verbraucht wird. An der Dusche sind Wasserzähler angebracht, die dem Duschenden direkt angeben, wie ökologisch er sich gerade verhält. Ein Display zeigt einen kleinen Eisbären, der auf einer Scholle steht, die stetig kleiner wird, je länger und wärmer er duscht. Furler Bassand: «Ziel ist es zu schauen, wie viel die Bewohner eines energieoptimierten Hauses wie der Kalkbreite verbrauchen. Schafft man es überhaupt, die Ziele der 2000-Watt-Gesellschaft zu erreichen oder ist das mit existenziellen Einschränkungen verbunden?»

Bis jetzt ist die Antwort klar. «Ja, es geht», sagt Furler Bassand. Sein Rekord beim Duschen liegt bei knapp sieben Litern. «Meistens sind es aber zehn bis zwölf.» Gemäss einer Studie des Schweizerischen Vereins des Gas- und Wasserfaches und des Bundesamtes für Umwelt liegt der Wasserverbrauch fürs Baden und Duschen bei 31,7 Litern pro Einwohner und Tag.

Selbst Furler Bassands Tochter Meret (11), die mehrmals wöchentlich in einer Fussball-Juniorenmannschaft als Goalie trainiert, hat den Eisbären noch nie in Nöte gebracht. Während sich ihr Bruder Jerome (15) ausserhalb der Kalkbreite mit seinen Kollegen trifft, ist sie in die Mädchen-Gruppen der Siedlung integriert. Gerade hat sie mit ihrer ersten Arbeitsgruppe einen Antrag gestellt, in einem der Keller einen Jugendraum einrichten zu dürfen. Und der Gemeinrat hat ihr Geld zugesprochen für Vorhänge und ein paar Möbel. Jetzt fehlen ihr noch ein Beamer und eine Musikanlage. Im Raum wollen die Teenager ihre Ruhe von den jüngeren. Meret: «Erst ab zehn Jahren darf man ihn betreten.»

Immer jemand da, mit dem man ein Gespräch führen kann

Der Beweggrund, in die Überbauung Kalkbreite zu ziehen, sei der Wunsch nach mehr Nachbarschaft mit Kindern gewesen, sagt Furler Bassand. «Und dass jeder von uns sein eigenes Zimmer hat», fügt Gattin Françoise an. Dank der sinnvollen Raumaufteilung habe sie so viel Privatsphäre wie nie zuvor. Als Mitglied der SP und der Kreisschulpflege hat die 51-Jährige gerne auch mal ihre Ruhe, kommt sie abends nach einem anstrengenden Tag nach Hause. «Ich schätze es aber, dass ich immer die Möglichkeit habe, mit jemandem ein unverbindliches Gespräch zu führen.»

«Hier ist es wirklich wie in einem Dorf», sagt ihr Mann. «Streunende Katzen inklusive.» Laut Furler Bassand hat die Kalkbreitesogar vieles, was ursprüngliche Dörfer längst verloren haben. «Wenn du heute in einem Schlafdorf wohnst, kennst du deine Nachbarn nicht mehr, der Spunten ist schon lange zu, und in den Fussballklub gehst du in der Nachbarsgemeinde. Bei uns ist das ganz anders.»

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  1. […] Wir sind gerne bereit, in den Medien über unser Leben in der Kalkbreite zu berichten und haben dies auch bereits einmal getan. […]

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