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Super Schnitt 

In «Sonntagsblick Magazin», Kultur on 18. Januar 2015 at 12:47
bild_scherenschnittMit einer grossen Ausstellung im Landesmuseum Zürich erhält der Scherenschnitt nun die Ehre, die ihm gebührt. 

Es hat etwas gedauert, bis der Scherenschnitt im Landesmuseum Zürich angekommen ist. Dafür geniesst er jetzt endlich den Platz, den er verdient. Das meistbesuchte kulturhistorische Museum der Schweiz zeigt bis am 19. April in einer grossen Werkausstellung über hundert Exponate einer Kunstform, die lange Zeit ein Nischendasein fristete.

Zu sehen sind historische Schweizer Sujets, vom Heiligenbild aus dem 18. Jahrhundert bis zum Evergreen der klassischen Motive: dem Alpaufzug der Sennen mit ihren Kühen. Aber auch zeitgenössische Werke, die Tradition neu interpretieren, indem sie Humor einsetzen oder Gesellschaftskritik üben, zeigt die Schau.

«Der Scherenschnitt ist fester Bestandteil unserer Volkskultur», sagt Christina Sonderegger. Sie ist Kuratorin des Schweizerischen Nationalmuseums. Rund 20 000 Besucher haben sich die von ihr konzipierte Ausstellung in Schwyz und im Waadtland angesehen, wo sie in den vergangenen Jahren in einer reduzierten Version gastierte.

Für Zürich hat Sonderegger zusätzlich drei Installationen in Auftrag gegeben. Darunter der begeh- und hörbare Scherenschnitt«Rondo» von Marianne Vogler. «Ein Scherenschnitt, der den dreidimensionalen Raum erobert», sagt Sonderegger.

Mit der Würdigung im Landesmuseum wird eine Szene beleuchtet, die einen wenig beachteten, aber lebhaften Austausch pflegte.

Der Star ist ein Taglöhner, der Dauerbrenner ein Alpaufzug

«Ich war überrascht, wie stark diese Kunstform gelebt wird», sagt Sonderegger über einen Ausflug ins Simmental im Berner Oberland, ein Epizentrum des Schweizer Scherenschnitts. «Ich habe dort Frauen kennengelernt, die vormittags den Haushalt machen und nachmittags vier Stunden lang Scherenschnitte auf Auftrag anfertigen.» Zum Beispiel für amerikanische Touristen, die sich ein besonderes Souvenir leisten wollen. Käufer seien meistens Liebhaber in- und ausserhalb der Kunstszene, sagt Sonderegger.

Trotz einem Aufwand von bis zu 200 Arbeitsstunden kosten Originale selten über tausend Franken. Es gibt Ausnahmen: Das teuerste Werk, das jemals verkauft wurde, schuf Johann-Jakob Hauswirth (1809–1871), ein hochbegabter und eigenbrötlerischer Taglöhner. Seine unerreichte Rekordmarke: rund 60 000 Franken.

Vor über dreihundert Jahren begannen Schweizer Nonnen, ihre Heiligenbilder mit Scherenschnitten zu verzieren. Mitte des 19. Jahrhunderts entstand im Saanenland und im Pays-d’Enhaut dann schliesslich das, was heute Schweizer Volksgut ist: der alpine Scherenschnitt. Christina Sonderegger: «Er zeigt typische Eigenschaften des Landes. Sie sind geordnet, präzis und harmonisch.»

Beim Alpaufzug ist die Form in sich geschlossen und immer ähnlich aufgebaut: Um ein zentrales Mittelmotiv, einen Blumenstrauss oder ein Herz, ranken sich Ornamente, die Flora und Fauna der Alpen zitieren. Ganz wichtig auch: der verzierte Rahmen. Und die Symmetrie, die durchs Schneiden in gefaltetes Papier entsteht.

Sie wecken in uns das Bedürfnis nach Harmonie

Wünschen wir uns manchmal nicht, die Welt wäre wie in einem Scherenschnitt? So klar in ihrer Trennung von Hell und Dunkel, von Leerraum und Materie, so voraussehbar in ihrer Symmetrie. Er zeigt uns ein Leben, das zwar körperlich beschwerlich, aber eben auch sehr übersichtlich war.

Bis der Scherenschnitt seinen Weg in die Schweiz fand, hatte er bereits einen langen Weg hinter sich. Die ältesten Funde stammen aus China und wurden dort um 300 nach Christus in Pergament geschnitten. Über Asien fand die Technik ihren Weg nach Europa, wo sie vor allem in Holland Anklang fand. Dort fertigte man Scherenschnitte, die gehäkelter oder geklöppelter Spitze ähnelten.

Im 18. Jahrhundert kamen sie in Form von Silhouetten-Porträts bei der gehobenen Gesellschaft in Mode, als die Leute in sogenannten Mussestunden ihren Hobbys nachgingen. Selbst Johann Wolfgang von Goethe war ein grosser Fan der Umriss-Schnitte, die den Schatten des Porträtierten im Profil zeigten. Die Faszination ist noch immer gross. Typische Schweizer Scherenschnitte zieren die Schaufenster von Grossbanken und Juwelieren, illustrieren Kinderbücher und prangen auf Souvenirs, die Menschen in fernen Ländern von einem Besuch in einer scheinbar heilen Welt träumen lassen.

Ein Image, mit dem nicht mehr alle Scherenschneider etwas anfangen können. «Ich habe probiert, der Idylle Gegensteuer zu geben», sagt Ernst Oppliger, heimlicher Star der Ausstellung im Landesmuseum. Der 65-jährige Berner hat mit seiner Kunst und Auftragsarbeiten – etwa dem Filmplakat zu «Sennentuntschi» (2010) – eine fünfköpfige Familie ernährt. Seine Werke sind avantgardistisch, zeigen etwa eine schneebefleckte Alp aus der Vogelperspektive, aus der bei genauerem Hinsehen ein schmächtiger männlicher Oberkörper leuchtet.

Oppliger benutzt, wie viele heutige Scherenschneider, neben winzigen Scheren auch Cutter oder Skalpelle, mit denen er chirurgisch genau ins – nicht zwingend gefaltete – Papier schneidet. Oder er geht einen Schritt weiter, wie mit dem Kunstwerk «Pharmazie 50 g/m2»: In die Packungsbeilage eines Medikaments ätzte er mit Säure einen Totenschädel. «Scherenschneiden ist eine sehr einsame Sache», sagt Oppliger. «Man muss gut mit sich allein sein können.»

Scherenschnittmotive mit Sex und Discos

Dass sich diese Disziplin ständig weiterentwickeln müsse, sagt auch Felicitas Oehler, Präsidentin des Vereins «Freunde des Scherenschnitts». Die Gruppe besteht aus über 500 Mitgliedern. 65 von ihnen sind mit eigenen Werken im Landesmuseum Zürich vertreten. Das Repertoire ist spektakulär breit. Von einem in Hunderte Schichten Papier geschnittenen Abendmahl über Themen wie erneuerbare Energie bis hin zur Discoszene inklusive Prügelei und Sex auf der Toilette – es ist alles mit dabei.

Schlussendlich bleibt man doch bei den alten Werken hängen, die in ihrer Naivität fast schon heilig wirken. Etwa bei der Liebesbezeugung von Elisabeth Wild aus Stäfa ZH, die 1810 ihre Zuneigung in einem runden Blatt Papier zum Ausdruck brachte. Oehler: «Heute schreibt man in einem SMS: ‹Ich liebe dich›. Und am nächsten Tag löscht man die Nummer womöglich bereits wieder. Erhält man hingegen ein Liebesgeständnis in Form eines Scherenschnitts, so weiss man: Es stecken echte Gefühle dahinter.»

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