Journalist

Lasagne al Abfall

In «Sonntagsblick Magazin», Gesellschaft on 4. Januar 2015 at 08:11
bild_food_wasteUnsere Bäuche sind nach den Festtagen randvoll, Abfalltonnen aber auch: «Mülltaucher» retten Lebensmittel, die weggeworfen wurden.

Elena Marti (19) sitzt am Esszimmertisch ihrer Studenten-WG an der Zürcher Langstrasse und rüstet eine Gurke, die sie vor Stunden aus dem Abfall gerettet hatte. «Treibhausgewächse haben im Winter eine schlechte Öko-Bilanz», sagt sie. «Für die Energie, die es braucht, um eine ausländische Gurke zu züchten und zu transportieren, braucht es bis zu 1,1 Liter Erdöl.»

Elena Marti ist Co-Präsidentin der Jungen Grünen Zürich und überzeugte Containerin. Will heissen: Nach Ladenschluss sucht die angehende Dekorationsgestalterin in Containern von Supermärkten nach Esswaren, die weggeworfen wurden. «Ich möchte etwas gegen Verschwendung machen», sagt sie. «Viele Lebensmittel, die im Abfall landen, sind noch länger geniessbar.» In den USA nennen sich die Anhänger dieser noch jungen Disziplin «Dumpster Diver», Mülltaucher. «Lebensmittel haben es aber nicht verdient, als Müll bezeichnet zu werden», sagt Marti.

Tatsächlich gehen ein Drittel aller Lebensmittel, die für den Schweizer Markt produziert werden, gemäss einem Bericht von WWF und Foodwaste.ch verloren. Ein grosser Teil in der Produktion und in der Verarbeitung. Etwa, wenn Früchte und Gemüse auf dem Feld liegen bleiben oder aussortiert werden, weil sie minderwertig, unförmig, zu gross oder zu klein sind. Der grösste Teil, fast die Hälfte, wird jedoch in Privathaushalten verschwendet.

Wir kennen es alle: Brot, das angetrocknet ist, Joghurts, die das Ablaufdatum überschritten haben, Bananen, die verdächtig unappetitlich aussehen … Beim Schweizerischen Toxikologischen Infozentrum rufen denn auch regelmässig besorgte Konsumenten an, weil sie etwas Abgelaufenes gegessen haben. Fast immer sind die Bedenken unbegründet.

Doch was hat es eigentlich mit dem Ablauf- oder Verbrauchsdatum auf sich, vor dem sich derart viele fürchten? Es ist seit 1967 bei allen Produkten vorgeschrieben, die gekühlt werden. Nach Ablauf dürfen sie nicht mehr an die Konsumenten abgegeben werden.

Ein Test des Schweizer Konsumentenschutzes hat allerdings ergeben, dass originalverpackt und ungeöffnet gelagerte Frischprodukte noch weit nach Ablauf des Verbrauchsdatums gut bis akzeptabel schmecken. Selbst drei Wochen nach Ablauf der Frist waren zwölf der dreizehn getesteten Milch-, Fleisch- und Dessert-Produkte absolut geniessbar, fünf wiesen leichte Geschmacksveränderungen auf. Selbst ein Monat nach Ablauf der Frist hätte der Konsum der Lebensmittel keinerlei gesundheitliche Risiken mit sich gebracht. Generell gilt: Als Gradmesser, ob etwas noch gut ist, am besten immer die eigenen Sinne einsetzen: riechen, betrachten, allenfalls schmecken.

Wie aber kommen «Dumpster Diver» zu ihrem Food? Marti trifft sich in einem Zürcher Aussenquartier wieder einmal zum «Containerle», wie sie es nennt, mit Kollegin Meret Schneider (22), einer der erfahrensten Containerinnen der Schweiz. Sie gibt Workshops für Interessierte an ihrem Wohnort Uster ZH und würde mit ihrem rockigen Look, den dunkel umrahmten Augen und den hautengen Jeans gut in eine Szene-Bar passen. Marti hingegen hat mit ihrem grossen, leeren Militärrucksack einen Pfadi-Style. Das Ziel des Duos: mehrere Container, die eingegittert hinter der Filiale eines Grossisten stehen.

In den Containern der Detailhändler landen zwar nur fünf Prozent der verschwendeten Lebensmittel, weil sie nicht verkauft werden konnten. Doch hier können Containerer ein Zeichen setzen und sich mit kostenloser Nahrung eindecken. Sie begehen damit mehr als einen Buben-respektive Mädchenstreich. Denn wer unerlaubt Privatgelände betritt und sich dort etwas nimmt, was ihm nicht gehört, begeht Hausfriedensbruch und Diebstahl. Allerdings lassen die Mitarbeiter und das Sicherheitspersonal, die Containerer in flagranti erwischen, meist Gnade walten. Oder bekräftigen auf Anfrage, das Phänomen erst gar nicht zu kennen.

«Jetzt müssen wir schnell machen», sagt Elena Marti. Das Gitter, hinter dem die Container stehen, ist nicht verriegelt. Sie schlüpft mit ihrer Weggefährtin ins Dunkel. Gleich im ersten Container: Volltreffer. Zwischen zerbrochenen Paletten und Abfallsäcken liegt jede Menge Gemüse: Salat, Blumenkohl, Broccoli, Fenchel, zwei Gurken, Spargeln. Sogar Champignons. «Noch nicht mal abgelaufen», sagt Marti. «Das ist unglaublich!»

Vor dem Container stinkt es nach Abfall. Aber die meisten Produkte sind luftdicht verpackt – und falls nicht, müssen sie sowieso noch geschält werden. Ekel? Kein bisschen. Erst einmal sei ihr nach dem Verzehr von abgelaufener Ware schlecht geworden, sagt Meret Schneider. «Den Grill-Käse hätte ich damals nicht essen sollen.»

Die Container sind nicht leicht zu erobern. Meret Schneider macht mit der Hand einen Steigbügel, worauf ihrer Kollegin fast kopfüber in den Container fällt. Es wird gekichert, auch ein wenig gekreischt. Drei Minuten später verlassen die beiden den Ort mit einem Rucksack und einem prall gefüllten Papiersack Esswaren. Schneider: «Es ist wie beim Einkaufen, einfach ohne bezahlen zu müssen am Schluss.»

In der WG an der Langstrasse sind in der Zwischenzeit die Helfer fürs Essen bei Elena Marti angekommen. Sie hat 14 Personen eingeladen – um zu zeigen, wie viele Menschen die Lebensmittel aus nur einem Container satt machen. Es gibt Gemüsesuppe und Lasagne. Die Teigwaren sind gekauft, genauso wie das Bio-Bier und der günstige Wein.

«Ich gehe mindestens einmal pro Woche einkaufen», sagt Marti. «Wenn ich bei Migros oder Coop an der Kasse stehe, bin ich eine ganz normale Kundin.» Aber eigentlich ernähre sie sich in den Wintermonaten von Lebensmitteln, die weggeworfen werden oder würden. Auch wenn das aufwendig sei: Bei Ladenschluss muss sie im Bioladen sein, um nach Übriggebliebenem zu fragen. Am Wochenende geht sie containern oder hilft auf dem Markt, Stände abzubauen.

Der Lohn: überschüssige Ware. «Manchmal auch crazy Sachen wie Pangasius- und Lachsfilets.» Mit dem gesparten Geld kann sie sich teure Bioprodukte leisten. Und mindestens einmal pro Woche einen Restaurantbesuch. Meistens gehts in ein libanesisches Lokal – Marti ist Vegetarierin. Den bewussten Umgang mit Nahrung habe sie von ihrer Mutter gelernt. «Es macht mich wütend, wenn Leute ihren Teller nicht leer essen.»

Nicht alle Eltern sehen es entspannt, wenn ihre Kinder containern. «Meine finden, es gäbe kein gutes Bild ab, dass ich als Ärztesohn Essen aus Containern fische», sagt Robert Rickli (18) und lässt eine Handvoll zerkleinerte Broccoli in eine Schüssel rieseln. Aber er lasse sich nicht davon abbringen. «Kürzlich habe ich dort gar einen Adventskalender mit Schoggi gefunden.» Der Gymnasiast mit den langen Dreadlocks kocht oft über Mittag mit Mitschülern. Man müsse sehr kreativ sein. «Der Container sagt einem, was es zu essen gibt.»

Am späteren Abend sitzen alle Gäste zu Tisch – das Essen wird serviert. Für sie ist die Herkunft der Zutaten nichts Besonderes. Optisch sind Suppe und Lasagne zwar nicht super «amächelig», entsprechen jedoch Menüs, die man aus der Studentenzeit kennt. Geschmacklich lässt sich daran aber nichts bemängeln. Dass die Zutaten am Vortag noch in einem Müllcontainer lagen – der Gedanke daran ist nun zu abstrakt, als dass er stören könnte. Nach dem Kochen ist die Nahrung durchaus geniessbar. Abfall entsteht offenbar erst im Kopf.

Dass so viele Lebensmittel im Abfall landen, sei auch ein gesellschaftliches Problem, sagt Elena Marti, als sie den Tisch abräumt: «Wir erwarten, dass wir eine Stunde vor Ladenschluss noch frisches Brot von jeder Sorte kaufen können.» Viele Menschen hätten keine Vorstellung mehr davon, wie lange eine Tomate braucht, um zu wachsen: «Das ist alles ganz weit Weg von uns.»

In der Küche steht eine grosse Schüssel mit Rüst-Abfall für den Kompost bereit. Marti betrachtet ihn und sagt halb ernst, halb scherzhaft: «Es bleibt trotzdem immer noch so viel übrig!»

«Food Waste»: Eine Bewegung kommt in Schwung

Es ist eine extreme Form, gegen Verschwendung von Lebensmitteln ein Zeichen zu setzen: Eine Gruppe junger Städter durchsucht Container von Discountern nach entsorgten Esswaren, die noch geniessbar sind, kocht und konsumiert sie. Das Phänomen der Containerer, Mülltaucher, Food– oder Waste-Diver, wie sie genannt werden, kommt ursprünglich aus den USA und breitet sich seit rund zehn Jahren in Europa aus.

Auch in der Schweiz hat die Anti-Food-Waste-Bewegung Auftrieb: Ausstellungen, wie die des Vereins Foodwaste.ch an der vergangenen Olma, Seminare für angehende Containerer und Restaurants, in denen mit entsorgter Ware gekocht wird, erfreuen sich wachsender Beliebtheit.

Der Grossteil der Nahrungsverschwendung entsteht in Privathaushalten. Für die Abfallvermeidung über die gesamte Wertschöpfungskette setzt sich seit kurzem die Schweizer Brancheninitiative «United Against Waste» ein.

Der Druck aufs Schweizer Parlament, verbindliche Ziele gegen Verschwendung festzulegen, steigt. Deutschland hat sich bereits dem Ziel der Europäischen Kommission angeschlossen, die Menge vermeidbarer Lebensmittelverluste bis 2020 zu halbieren.

Ganzer Artikel mit Bildern

%d Bloggern gefällt das: