Oft fühle ich mich schuldig gegenüber meinem Mann, meinen zwei Töchtern und meinem Sohn. Sie sind davon betroffen, dass ich in Pakistan, wo wir leben, eine öffentliche Person bin. Meine Arbeit als Anwältin für Menschenrechte ist gefährlich. Mein Bruder und seine Kinder wurden schon einmal als Geiseln genommen von Leuten, die mich töten wollten.
Das alles hat die Mitglieder meiner Familie traumatisiert. Aber über die Jahre haben sie gelernt, sich mit der Situation abzufinden. Ich kann nicht anders, als mich als Anwältin für die Rechte von Frauen und anderen Benachteiligten einzusetzen – das verstehen sie inzwischen. Jedenfalls beschweren sie sich nicht.
Ich hatte grosses Glück, als Mädchen gleich behandelt zu werden wie meine Brüder. Meine Mutter war gebildet, mein Vater in der Politik. Ich wurde nicht religiös erzogen. Erst als ich geheiratet habe, merkte ich, in welchem Ausmass Frauen in Pakistan benachteiligt werden. Viele dürfen nicht aus dem Haus, Gewalt gegen sie wird weitgehend toleriert.
1999 wurde eine Frau, die ich als Anwältin vertrat, in meinem Büro von einem Familienmitglied erschossen. Sie wollte sich scheiden lassen und wurde Opfer eines Ehrenmords. Dieses Delikt galt in Pakistan lange nicht als «normaler» Mord. Inzwischen hat sich das geändert. Zumindest würde niemand mehr öffentlich einen Ehrenmord gutheissen.
Meinen ersten Protestmarsch organisierte ich, kurz nachdem ich die Schule abgeschlossen hatte. Ich protestierte für die Freilassung meines Vaters. Er hatte sich gegen das Militärregime aufgelehnt und wurde verhaftet. Auch ich wurde bereits mehrere Male eingesperrt und unter Hausarrest gestellt. Ich weiss jetzt, dass Freiheitsentzug das Schlimmste ist, was man einem Menschen antun kann. Als ich vor acht Jahren einen Marathon organisierte, bei dem Frauen und Männer mitliefen, wurde ich von bewaffneten religiösen Extremisten geschlagen, ausgezogen und danach von der Polizei verhaftet. Aus Protest hielten wir gleich noch einmal einen Marathon ab, an dem Tausende Personen teilnahmen. Das ist Aktivismus. Du bist kein Aktivist, wenn du die Unterdrücker nicht herausforderst!
Ich erinnere mich gut an das erste Mal, als ich Opfer von physischer Gewalt wurde – von ein paar Klapsen, die mir meine Mutter verpasst hat, einmal abgesehen. Wir gingen gegen ein Gesetz auf die Strasse, demzufolge Zeugenaussagen einer Frau nur halb so viel Wert sein sollen wie die eines Mannes. Damals ging ein Aufschrei durch die Bevölkerung, weil die Polizei uns so brutal verprügelte. Nur, weil wir als Frauen für unsere Rechte einstanden! Ich denke, dass ein grosser Anteil der Öffentlichkeit heute unterstützt, wofür ich kämpfe. Nicht umsonst wurde ich 2010 als erste Frau zur Anwaltskammer-Präsidentin des Obergerichts Pakistans gewählt.
Ich führe eine erfolgreiche Kanzlei. Das erlaubt es meinem Team und mir, die Hälfte meiner Aufträge «pro bono» auszuführen, also ohne dafür bezahlt zu werden. Kinder liegen mir sehr am Herzen. Ich habe mich dafür eingesetzt, dass in Pakistan lebenslängliche Haft und Todesstrafe für Kinder abgeschafft wird. Heute gibt es für unter 18-Jährige keine Todesstrafe mehr. Es sitzen auch nicht mehr viele Kinder im Gefängnis. Keine ideale Situation, aber eine grosse Verbesserung.
1995 habe ich einen 14-jährigen christlichen Jungen vor Gericht vertreten, der wegen Gotteslästerung angeklagt war. Man warf ihm vor, etwas an die Mauer der Moschee geschrieben zu haben, obwohl er weder lesen noch schreiben konnte. Er war damals genauso alt wie mein Sohn und wurde zum Tode verurteilt. Ich musste ihm diese schreckliche Botschaft überbringen. Er sagte nur: «Ich bin sicher, du kannst das verhindern.» Ich zog das Urteil weiter. Bei der Urteilsverkündung lag ich nach einer Herzoperation im Spital. Der Junge wurde freigesprochen. Ich hüpfte auf dem Bett vor Freude – sehr zur Besorgnis der Ärzte.
Ich werde oft gefragt, ob ich Hass empfinde auf die Leute, die diese schlimmen Dinge tun. Ich betrachte Hass als das schlimmsten Gefühl, das ein Mensch haben kann. Aber ich habe grosse Abneigungen gegen solche Leute, das kann ich jedem versichern.
Asma Jahangir (62)
Sie ist führende Anwältin für Menschenrechte in der islamischen Republik Pakistan. Seit dreissig Jahren vertritt Asma Jahangir dort die Schwächsten der Gesellschaft: Frauen, Kinder, religiöse Minderheiten und Arme. Für ihren kompromisslosen Kampf gegen Gesetze, die Frauen benachteiligen – und weil sie Mächtige mit unangenehmen Wahrheiten konfrontiert – wurde Jahangirwiederholt bedroht, angegriffen, eingesperrt und unter Hausarrest gestellt. Die Mutter von drei Kindern war Uno-Sonderberichterstatterin für Menschenrechtsthemen und wurde 2010 als erste Frau zur Präsidentin der Anwaltskammer des Obersten Gerichtshofs Pakistans gewählt.
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