Wenn Tattoos zerlaufen könnten, hätte Jack jetzt ein Problem: Der 26-jährige Tätowierer aus London schwitzt sich durch seine zehnte Pirouette. Er trägt ein schwarzes T-Shirt mit Harley-Davidson- Schriftzug, seine bleichen Füsse stecken in Ballettschläppchen. «Gib alles», grölen seine Kumpel Tim, Thomas und Quirino. Sie gehören zu einer Gruppe Männer, die seit einem halben Jahr in einem verspiegelten Tanzstudio im Zürcher Aussenquartier Witikon Ballettstunden nehmen – bei William Moore, Brite und Shootingstar von Ballett Zürich.
Die Gruppe ins Leben gerufen hat Tim, 37, Schnauz im Gesicht, Bandana um den Kopf. Er habe sich früher als eher unsportlich eingestuft, sagt er, und endlich etwas für seine Fitness tun wollen. «Etwas mit einer Philosophie dahinter – am liebsten Kampfsport.» Wegen Rückenproblemen sei das nicht möglich gewesen. «Geh doch zu meiner Frau ins Ballett, das ist gut für die Haltung», hat ihm ein Bekannter geraten, der mit Yen Han verheiratet ist (auch sie eine renommierte Tänzerin von Ballett Zürich) und mit ihr eine Ballettschule besitzt: das Yen Han Dance Center, in dem die Gruppe trainiert.
Auf eine Klasse mit wildfremden Leuten hatte Tim, der ein Tattoo- Studio leitet, keine Lust, also überredete er seine Freunde, ihn zu einer Privatstunde zu begleiten. «Es waren die anstrengendsten 60 Minuten meines Lebens. Ballett ist französischer Kampfsport!»
Im Tanzstudio läuft jetzt die Piano-Version eines Metallica- Songs. Ballettlehrer William: «And back, flex, stretch. And back, flex, stretch.» Eine Ballettstunde ist immer ähnlich aufgebaut: Sie beginnt mit Übungen an der Stange, an der man sich festhalten kann, danach wird dasselbe freihändig, dem Spiegel zugewandt wiederholt. Es geht darum, jeden Muskel im Körper anzuspannen, während man etwa ein Bein nach vorne, hinten oder auf die Seite streckt und immer wieder Pliés, Pliés, Pliés macht, dieses In-die-Hocke-Gehen, während sich die Fersen berühren und die Knie voneinander wegzeigen.
«Ich habe zu Beginn befürchtet, dass mich die Gruppe nicht richtig ernst nehmen könnte», sagt Ballettlehrer William. Der 28-Jährige, der in seiner Freizeit bunte Trainerjäckchen trägt und Skateboard fährt, sieht mit seinem Lockenkopf und den geschwungenen Lippen aus wie ein Barockengel. Beim Tanzen zeigt er aber knallharte Leistung und fordert dasselbe von seinen Schülern. «Sie respektieren mich sehr für mein Können», sagt er stolz, «machen laufend Fortschritte und sind immer voll bei der Sache.»
Thomas, 36, Frottee-Stirnband um den Kopf, bullige Erscheinung: «Es fällt mir nicht leicht, meine grazile Seite zu zeigen.» Er ist Ex-Banker, hat gerade zwei Jahre als Tauchlehrer auf Mallorca gearbeitet. «Das gängige Klischee sagt, dass nur Frauen und Schwule sich für Ballett interessieren.» Das ist in der Szene, in der die Gruppe sich bewegt, nicht anders. «Es wird komisch geguckt», sagt Thomas, «wenn alle über ein Death- Metal-Konzert reden und wir daneben Pliés vergleichen. Aber die Ladys sind voll beeindruckt. Die drehen durch!» Er habe seit der ersten Ballettstunde sechs Kilo abgenommen und mit dem Rauchen aufgehört. «Ballett hat mein Leben verändert, ich habe ein ganz anderes Körpergefühl, mehr Disziplin, Ausstrahlung und Lebensfreude.» Am Wochenende besucht Thomas mit seinen Ballerinos Ballettaufführungen.
Auf dem Tanzparkett gehts jetzt richtig zur Sache: Die Männer galoppieren quer durch den Raum, das hintere Bein schnappt ans vordere. Hört sich an wie Sackhüpfen, sieht auch ein bisschen danach aus. Spätestens jetzt könnte es entwürdigend werden. Aber die Ernsthaftigkeit, mit der die Männer bei der Sache sind, wiegt alles auf. Thomas: «Für Ballett braucht man keinen Stolz, aber grosse Eier.»
Warum aber nun ausgerechnet Ballett? Weil es gespielte Leichtigkeit sei, sagt Tim. «Es erfordert unglaublich viel Kraft, Disziplin und Konzentration. Wir haben es hier mit uraltem europäischem Kulturgut zu tun!» Was man über Tim wissen muss: Er hat vor ein paar Jahren für Aufsehen gesorgt, als er einem Kunstsammler seinen tätowierten Rücken verkauft hat, den er nun in regelmässigen Abständen in Ausstellungen präsentiert. Wenn Tim stirbt, wird das Kunstwerk von seinem Körper abgezogen und konserviert. In seinen Augen blitzt immer wieder der Wahnsinn auf, den es für eine solche Performance braucht. Man ahnt, worum es ihm beim Ballett auch noch geht: um die grosse Lust daran, anders zu sein.
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