Der Fall kam damals am Lokalradio von Basel. Das Auto, das den Unfall verursachte, war gestohlen. Die drei Typen, die darin sassen, begingen anschliessend Fahrerflucht. Später fand man das Fahrzeug in Muttenz. Es war mit Öl übergossen und angezündet worden. Meinens Wissens hat man die Täter nie erwischt.
Wir waren mit unserer Grossmutter unterwegs zur Basler Herbstmesse. Stéphanie, meine Zwillingsschwester, ging ein paar Meter vor mir über die Strasse, als ein Auto mit hoher Geschwindigkeit von hinten in einen anderen Wagen krachte, der an der Ampel wartete. Er wurde mit voller Wucht auf den Fussgängerstreifen geschleudert. Ich sehe noch vor mir, wie Stéphanie durch die Luft wirbelte und schreiend liegen blieb. Ich war sieben.
Ein Krankenwagen brachte uns alle ins Kinderspital, wo meine Schwester am selben Abend operiert wurde. Glücklicherweise trug sie nur einen komplizierten Beinbruch davon. Ich stand trotzdem unter Schock, weinte und weinte. Meine Eltern, die bald eintrafen, konnten mich nicht beruhigen.
Stéphanie und ich waren zu jener Zeit emotional extrem eng verbunden – typische Zwillinge. Wir sassen nebeneinander in der Primarschule und schauten uns alles ab. Wenn wir etwas zeichnen mussten, brachte ich exakt das Gleiche aufs Papier wie sie. «Das ist nicht die Idee», sagte die Lehrerin dann. «Du musst selbst versuchen, deine Fantasie zu entwickeln.» Ein riesiger Schritt war für mich, als uns der Santiglaus sagte, dass wir in der Schule ab jetzt nicht mehr nebeneinander sitzen werden.
Weil ich mich damals weigerte, Stéphanie im Spital allein zu lassen, erlaubte man mir, bei ihr zu übernachten. Nach der Visite am nächsten Tag war mir klar, dass ich Arzt werden will. Wenn diese Horde von Menschen in Weiss einfährt, hat das etwas Theatralisches. Nicht Pfleger, nicht Krankenschwester. Arzt!
Damals habe ich mein Helfersyndrom entdeckt. Der Begriff ist etwas negativ belastet. Man könnte denken, dass ich mich nicht abgrenzen kann. Das wäre aber ein pathologisches Helfersyndrom. Einmal hat mich zum Beispiel ein Patient gefragt, ob ich ihm fünfzig Franken ausleihen könne, weil er einen finanziellen Engpass habe. Darauf habe ich mich nicht eingelassen.
Die Menschen, die zu mir kommen, haben sich kurz zuvor mit HIV infiziert und wissen oft erst seit wenigen Tagen davon. Ich bin Oberarzt an der Klinik für Infektionskrankheiten am Universitätsspital Zürich und verantwortlich für eine Studie über akute HIV-Infektionen. Ziel ist es, den Krankheitsverlauf in den Anfängen der Infektion besser zu verstehen. Es ist eine Phase, in der viel zerstört wird. Wenn wir bereits dann mit Medikamenten intervenieren können, fällt der Schaden am Immunsystem geringer aus.
Bisher ist es nicht möglich, HIV-Patienten zu heilen. Das Virus nistet sich in Zellen ein und schläft dort. Dieses «latente Reservoir», so der Fachbegriff, kann sich in Körperregionen wie dem Hirn befinden, an die man nicht herankommt. Wenn man aber früh zu behandeln beginnt, bleibt das Reservoir klein. Patienten mit einem kleinen Reservoir haben sehr wahrscheinlich bessere Voraussetzungen, geheilt zu werden, wenn die Medizin einmal so weit sein wird.
Zwischen dem Tag, als meine Schwester verunfallte, bis heute liegt ein langer Weg. Er begann damit, dass ich mir den Operationssaal von Playmobil wünschte, und endete, als ich mein Medizinstudium abschloss und mich auf dem Gebiet der Infektionskrankheiten spezialisierte. Mich fasziniert, dass man den Patienten dort ganzheitlich betrachten muss. Erkrankungen durch Viren oder Bakterien sind oft schwer erkennbar. Man muss den Kopf einschalten, wenn jemand Fieber hat, und genau zuhören, was der Patient über seine Beschwerden erzählt. Denn oft findet man die Ursache über die Symptome.
Eine gewisse «Déformation professionnelle» als Folge nicht abzustreiten. Wenn jemand mit einem Hautausschlag zu uns kommt, fällt immer gleich das Wort «Syphilis». Ein anderer Arzt würde vielleicht zuerst eine Reaktion auf ein Medikament oder eine Kinderkrankheit vermuten. Für manche Patienten ist das stossend. Sie sagen: «Ich bin verheiratet, warum kommen Sie mir mit HIV?» Ein paar Wochen später kommt dann doch raus, dass der Familienvater zwei Wochen vorher im Puff war.
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