Quynh Arguello, 33, hat in Vietnam Luxus-Modemarken aufgebaut. Und dabei gemerkt, wie sehr es ihr in der Schweiz gefällt.
Sie kamen zu Hunderten in die neu eröffneten Läden: einfache Vietnamesen mit Flipflops an den Füssen und Plastiksäcken in der Hand. Wir wollten ihnen zuerst keine Kleider und Schuhe zum Anprobieren geben. Die kaufen eh nichts, dachten wir. Bis wir gemerkt haben, dass ihre Plastiksäcke voller Geld waren.
Geld waren. Ich bin Schweizerin, in Luzern aufgewachsen. Nach meinem PR-Studium reiste ich 2008 zum ersten Mal nach Vietnam – in das Land, aus dem meine Grosseltern 1954 wegen des Unabhängigkeitskrieges mit den Franzosen geflohen sind und das meine Eltern bis heute nur vom Hörensagen kennen. Ich sprach schlecht Vietnamesisch damals – meine Eltern waren froh, ihr Deutsch durch uns Kinder zu verbessern, deshalb sprachen wir zu Hause Deutsch.
Es war kein warmer Empfang, wie ich ihn mir in meiner Naivität vorgestellt hatte. Die meisten Leute begegneten mir mit Missgunst und Neid. In ihren Augen war ich eine der vielen Auslandvietnamesen, die das Land im Stich gelassen haben. Ich war anders angezogen, sprach anders, war sonnengebräunt und rauchte als Frau öffentlich. «Nur Prostituierte tun das», sagte man mir.
Nach einem halben Jahr auf Reisen ging mir das Geld aus. Über Beziehungen in der Schweiz kam ich zu einem Job bei einer vietnamesischen Firma, die im Auftrag westlicher Luxuskonzerne Modemarken wie Lanvin, Jil Sander und Marc Jacobs nach Vietnam brachte. Als Verantwortliche für Marketing und Kommunikation musste ich unter anderem die gesamte Werbung der Marken, die Gestaltung der Läden samt Schaufenster und die Modeschauen der neusten Kollektionen koordinieren und dem vietnamesischen Markt anpassen.
Kein leichtes Unterfangen in einem korrupten, sozialistischen Staat – das wurde mir zum ersten Mal bewusst, als ich eine Modeschau für Journalisten durchführte und kein Einziger von ihnen etwas darüber schrieb. Weil ich vergessen hätte, fünfzig Dollar in die Pressemappen zu legen, wurde mir ausgerichtet. Von da an habe ich das immer gemacht. Und die Journalisten übernahmen meine Texte eins zu eins.
Man muss sich vorstellen, dass Vietnam lange Zeit abgeschnitten war von der Weltwirtschaft. Erst Anfang 2000 kamen ausländische Investoren, die gemerkt hatten, dass man noch billiger produzieren kann als in China. Diejenigen Bauern, die ihr Land an H & M, Ikea, Abercrombie & Fitch oder Mango verkaufen konnten, waren auf einen Schlag reich. Das waren dann auch diejenigen, die mit Plastiksäcken voller Geld in unsere Luxusboutiquen kamen.
Aber nicht nur: In Vietnam gibt es überdurchschnittlich viele Frauen an der Spitze von Unternehmen. Sie haben die Geschäfte ihrer Ehemänner übernommen, die im Vietnamkrieg gefallen sind. Auch sie kauften bei uns ein. Oder Personen aus dem Umfeld der Partei. Eine Funktionärstochter bestellte sich in vier Jahren fünfzig Balenciaga-Taschen. Jedes Modell in jeder vorhandenen Farbe. Jeder unserer Topkunden gab im Durchschnitt 30 000 Dollar pro Monat bei uns aus.
Wenn ich abends aus einem der klimatisierten Läden auf die Strasse trat, herrschten 35 Grad, alles war voller Töffli, und Strassenhändler verkauften gefälschte Louis-Vuitton-Accessoires zu Spottpreisen. Ich verdiente dreissigmal so viel wie ein durchschnittlicher Vietnamese, wohnte in einem klassischen Expat-Quartier in Saigon, am Anfang hatte ich einen Chauffeur, der mich mit dem Auto umherfuhr, später einen mit einem Motorrad, weil ich nicht die ganze Zeit im Stau stehen wollte.
Die völlig verschiedenen Welten, in denen ich mich in meinen vier Vietnam-Jahren bewegte, liessen mich manchmal fast schizophren werden. Ich musste mitansehen, wie ein Land, das praktisch nichts hatte, plötzlich von Luxusmarken überschwemmt wurde. Dass ich daran beteiligt war, liess mich mehr als einmal leer schlucken.
Ich war ins Land meiner Grosseltern gereist, um meine Wurzeln zu erkunden, und habe dabei gemerkt, wie sehr es mir eigentlich in der Schweiz gefällt. Hier brauche ich bei der Arbeit niemanden zu bestechen, und das soziale Gefälle ist nicht so gross. Wenn mich aber heute, wo ich in Zürich lebe, jemand fragt, was ich aus meiner Zeit in Vietnam am meisten vermisse, antworte ich ganz ehrlich: «Die Haushaltshilfe, die ich mir leisten konnte.»
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